In der Industrie gibt es das Phänomen der "Hidden Champions". Gemeint sind damit mittelständische Unternehmen, die in teils hochspezialisierten Nischen Weltmarktführer sind und den wirtschaftlichen Aufschwung befeuern, in der Öffentlichkeit aber dennoch beinahe unbekannt sind. Dieses Prinzip lässt sich auch auf die digitale Wirtschaft übertragen - und einer dieser deutschen Hidden-App-Champions ist Ulysses aus Leipzig.
App-Erfolg aus Leipzig
Die Geschichte von Ulysses beginnt im Jahr 2002, also zu einem Zeitpunkt, als das erste iPhone noch nicht einmal ein Gerücht war. Marcus Fehn wollte ein Buch schreiben und war auf der Suche nach einem mächtigen und zugleich nutzerfreundlichen Schreibprogramm. Doch bis auf Microsoft Word schien es nichts zu geben. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als ein eigenes Programm zu entwickeln. Online suchte er deshalb nach einem Programmierer, der ihm bei diesem Unterfangen helfen sollte - und stieß dabei auf Max Seelemann.
Gemeinsam entwickelten beide das Programm Ulysses, benannt nach dem berühmten Roman von James Joyce. "Der Jahrhundertroman", sagt Seelemann im Gespräch mit dem stern. "Wenn das keine geeignete Messlatte ist, was dann?" Das Programm richtet sich explizit an Vielschreibende, also Romanautoren oder Journalistinnen, Blogger und Wissenschaftlerinnen. 2003 war das Programm fertig und wurde online zum Download bereitgestellt.

Dass es so weit kommen konnte, ist nicht selbstverständlich. Fehn wohnt bis heute in Hamburg, Seelemann kommt aus Leipzig. Beide praktizieren das Remote Work - also das Arbeiten auf Distanz, welches durch Corona einen Schub erlebte - seit zwei Jahrzehnten. 2004 haben sich beide das erste Mal auf der Leipziger Buchmesse getroffen. Damit sich beide im Messetrubel erkennen konnten, mussten sie sich vorher gegenseitig Fotos schicken - die Videotelefonie war ja noch nicht erfunden.
Ulysses wurde ein Hit im App Store
Das Programm Ulysses entstand ursprünglich nur für den Mac und wurde über die Jahre weiterentwickelt. Lange Zeit war es ein Hobbyprojekt, mit dem Fehn und Seelemann ein bisschen Extra-Geld verdienten, um damit etwa neue Computer zu kaufen. 2011 kam der App Store, den man bereits vom iPhone und iPad kannte, auf den Mac. Seelemann stellte sein Ulysses-Schreibprogramm in Apples Software-Laden, wo es direkt gefeatured wurde. Seelemann traute seinen Augen kaum: "Wir haben in der ersten Woche 20.000 Euro Umsatz gemacht. Aus dem Stand. Das war einfach unglaublich."
Seelemann steckte damals mitten in seiner Promotion. Doch der wirtschaftliche Erfolg stellte ihn vor die Wahl: Promotion oder Ulysses? Die Entscheidung fiel zugunsten des Schreibprogramms. "Ich hätte es mein Leben lang bereut, nicht das Business versucht zu haben." Im Lauf der Jahre wurde Ulysses auf weitere Apple-Plattformen gebracht - erst auf das iPad, später das iPhone. Aus dem Zwei-Mann-Hobbyprojekt formten beide eine Firma mit mittlerweile mehr als 20 Angestellten.
"Wir hätten China nicht ohne App Store erschlossen"
Für Seelemann war der App Store der Durchbruch. Zwar verlangt Apple an darüber getätigten Umsätzen eine Provision von 30 Prozent (bei wiederkehrenden Abonnements sinkt diese später auf 15 Prozent, ebenso bei kleinen Entwicklerstudios), was immer wieder zu Reibereien mit Kartellwächtern und gerichtlichen Auseinandersetzungen führt. Doch im Gegenzug profitieren Entwickler wie Seelemann von der weltweiten Popularität der Plattform und dem großen Vertrauen, welches die Nutzerinnen und Nutzer dem App Store entgegenbringen. "Mehr als 80 Prozent unseres Umsatzes generieren wir außerhalb der EU. Die USA sind unser wichtigster Markt, danach kommt China. Und ganz ehrlich: Ich weiß nicht, ob wir China jemals ohne denn App Store hätten erschließen können."
Ein Effekt, der bei vielen App-Anbietern zu beobachten ist. Einer Berechnung von Apple zufolge entstanden durch den App Store allein hierzulande 250.000 Arbeitsplätze. Seit der Gründung 2008 auf dem iPhone haben Entwicklerstudios hierzulande mehr als zwei Milliarden Euro an Gesamteinnahmen generiert. Das Geschäft wächst weiterhin rasant, die Wachstumsrate lag im Jahr 2020 bei 21 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Erfolgreiche Apps Made in Germany sind neben Ulysses etwa die Sprachlern-Anwendung Tandem oder die Klavier-Lern-App Flowkey, die in Berlin entwickelt und schnell zu einer der weltweit erfolgreichsten Musiklern-Apps wurde. Beide verzeichneten während der Corona-Krise ein enormes Nutzerwachstum. Auch die App Fastic zum intermittierenden Fasten zählt zu den Profiteuren des vergangenen Jahres. Andere international erfolgreiche Apps aus Deutschland sind unter anderem Blinkist, Asana Rebel, Kitchen Stories, N26 oder Babbel.

Das iPad wird zur neuen Schreibmaschine
Für das Ulysses-Team war die Corona-Zeit dagegen kein Geschäftsturbo. "In der Pandemie war das Schreiben von Büchern vielleicht nicht gerade das angesagteste Hobby", scherzt Seelemann. "Wir sind stark gewachsen die vergangenen Jahre. In einigen haben wir unsere Zahlen verdoppelt. Und in anderen legten wir nur um ein paar Prozent zu." Er blickt dennoch zuversichtlich in die Zukunft: 50.000 Personen haben mittlerweile ein aktives Abonnement, welches 50 Euro im Jahr kostet.
Von der weltweiten Entwicklerkonferenz WWDC, die in der kommenden Woche (rein virtuell) stattfindet, erhofft sich Seelemann vor allem viele Neuerungen für das iPad. Denn die Downloadzahlen zeigen, dass das Tablet - auch dank Tastaturhüllen - immer häufiger als Laptop-Ersatz verwendet wird.
Neben der fortwährenden Optimierung des Schreibprogramms hat Seelemann noch einen weiteren Bereich im Auge: Tabellen. "Die sind jetzt nicht besonders sexy und werden auch nicht die Welt revolutionieren", gibt er zu. "Aber für viele unserer Kunden ist das ein wichtiges Feature. Und es ist gar nicht so einfach, Tabellen möglichst elegant umzusetzen."
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