Eine Vorstellung, die verlockend wirkt: Über einen Klick mit der Maus gelangt man online zu Büchern, Kunstwerken und kulturhistorischen Dokumenten, ohne das Wohnzimmer verlassen zu müssen. Was sich noch wie Fiktion anhört, soll schon im Herbst laut Viviane Reding, EU-Kommissarin im Bereich Informationsgesellschaft und Medien, verwirklicht werden.
"Die europäische Digitale Bibliothek wird den Menschen einen schnellen und einfachen Zugang zu europäischen Büchern und Kunstwerken bieten - ob im Heimatland oder im Ausland", erklärt die EU-Beauftragte. So werde beispielsweise ein tschechischer Student in Werken der British Library blättern können, ohne dazu nach London reisen zu müssen. Ein irischer Kunstliebhaber könne so die Mona Lisa sehen, ohne vor dem Louvre Schlange zu stehen.
Ob das ambitionierte Vorhaben tatsächlich im Herbst 2008 an den Start geht, bleibt offen. Bislang ist außer einem kurzen Einführungsvideo über Europeana nicht viel auf der Website zu sehen. Und das, obwohl starke Partner wie die Schweizerische Nationalbibliothek oder die niederländische Koninklijke Bibliotheek das Projekt unterstützen.
Start im November 2008
Die Macher von Europeana verstehen ihr Video wohl auch mehr als Aufforderung an europäische Institutionen, ihre digitalen Inhalte bereitzustellen. Martine de Boisdeffre, Präsidentin der Region Europa (EURBICA) des internationalen Archivrats ICA, forderte kürzlich: "Die Benutzenden wollen in der Lage sein, verschiedene Formen der Kulturdokumentation zu verknüpfen. Dazu müssen die jeweiligen Dokumentationsinstitute ihre Metadaten Europeana zur Verfügung stellen."
Angesprochen seien also Anbieter digitaler Inhalte wie Archive, Verlage und Bibliotheken. Dank ausgeklügelten Suchmethoden würden Gemälde, Fotografien, Objekte, Bücher, Zeitungen sowie Film- und Tondokumente auf Europeana zu finden sein, nachdem sie von den Kulturinstituten digitalisiert worden sind. Bis November 2008, so das ehrgeizige Ziel, sollen auf dem Portal zwei Millionen Dokumente gespeichert sein, bis 2010 sogar sechs Millionen.
Bislang klafft jedoch eine eklatante Lücke zwischen Anspruch und Realität. Um den Traum von einer europäischen digitalen Bibliothek zu verwirklichen, müssten die Mitgliedstaaten sich bei der Digitalisierung ihrer Kulturwerke sehr anstrengen. Mehr als 2,5 Milliarden Bücher lagern in den europäischen Bibliotheken - aber gerade mal ein Prozent des archivierten Materials liege in digitaler Form vor, kritisiert die EU-Kommission.
Digitalisierung erst am Anfang
"Europeana hat zur Zeit noch das Problem, dass der Stand der Digitalisierung in den einzelnen Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich ist", stellt Friedrich Geißelmann, Direktor der Universitätsbibliothek Regensburg, fest. Auch in Deutschland sei die Digitalisierung unterschiedlich weit fortgeschritten. Einige Bibliotheken beschäftigen sich sehr intensiv mit dem Thema, während etwa Museen eher zögerlich digitalisieren.
Und wer bereits über digitalisiertes Material verfügt, stellt es nicht zwangsläufig online: So würde nach Angaben von Viviane Reding nur eines von vier deutschen Museen ihre Werke auch im Netz bereitstellen. Als weiterer Bremsklotz auf dem Weg zu einer europäischen Bibliothek erweist sich der immense Kostenfaktor. Zum jetzigen Zeitpunkt kann noch niemand genau sagen, was der Digitalisierungsprozess kosten wird.
Immerhin unterstützt die Kommission ihre Mitgliedstaaten bei der Bereitstellung der Kunstschätze - in den Jahren 2009 bis 2010 sollen rund 69 Mio. Euro aus dem EU-Forschungsrahmenprogramm in die Digitalisierung und Entwicklung digitaler Bibliotheken fließen. Weitere 50 Mio. Euro werden im gleichen Zeitraum bereitgestellt. Allerdings dürften sich allein schon die Gesamtkosten für die Digitalisierung von fünf Millionen Büchern in den Bibliotheken Europas laut Schätzungen der EU auf 225 Mio. Euro belaufen. Manuskripte oder Gemälde sind bei dieser Rechnung noch nicht berücksichtigt.
Neben der Frage nach der Finanzierung gibt es aber noch weitere Hürden zu überwinden. So muss es einheitliche Datenformate geben und auch die Kategorien, unter denen Bestände erfasst sind, müssen einheitlich sein. Fehlen diese gemeinsamen Standards findet die Suchmaschine keine Exponate.
Eine weitere Herausforderung liegt in der Mehrsprachigkeit. Bei einem deutschen Suchbegriff muss das System auch in der englischen Datenbank Ergebnisse ausspucken.
Ebenfalls im Fokus stehen Urheberrechts- und Verwertungsfragen, die bei Netzbibliotheksprojekten keineswegs unwichtig sind. Wenn Museen ihre Kunstwerke online stellen, müssen sie sichergehen können, dass keine kommerzielle Weiterverwertung stattfindet, ohne an den Erlösen beteiligt zu werden. Wann eine europäische Online-Bibiliothek Wirklichkeit wird, liegt also auch daran, wie schnell die unterschiedlichen Hürden zu nehmen sind.