Die Flitterwochen führten im großen Bogen von Paris nach Rom, Mailand, Venedig und Neapel - und wo immer die frisch Verheirateten sich verloren fühlten zwischen unbekannten Schildern und Hinweisen aller Art, zogen sie Otávio Goods iPhone aus der Tasche und hielten es vor die fremden Wörter: Prompt zeigte ein kleines Programm namens "Word Lens" ihnen, was die französischen und italienischen Begriffe zu bedeuten hatten; die Übersetzung erschien sofort auf dem Display, eingeblendet direkt ins Bild der iPhone-Kamera. "Man wird manchmal etwas seltsam angeschaut", erzählt John DeWeese, aber seine Frau konnte das nicht bremsen. "Wir liefen durch Paris, und sie sagte immerzu: ‘Warte mal!'" Ehe sie wieder das iPhone zückte, um es in die Luft zu strecken.
Die Begeisterung ist verständlich: Word Lens gehört zu der Sorte von Mobil-Apps, die süchtig machen können. Auf magische Weise scheint das Programm die Welt zu verstehen: Es schaut durch die Kamera im iPhone (neuerdings auch iPad 2), erkennt Schilder, liest die Schrift darauf, übersetzt sie - und übermalt dann das Original im Bild mit der Übersetzung. All das in Echtzeit. Plötzlich steht dort nicht mehr ein spanischer Satz wie "Bienvenido al futuro", sondern virtuell aufs Handy-Display gepinselt: "Welcome to the future", willkommen in der Zukunft.
App verlangt iPhone alles ab
Bisher funktioniert der digitale Zaubertrick eigentlich nur mit dem Sprachpaar Englisch-Spanisch, doch John DeWeese hat einen Vorteil: Er ist einer der Erfinder von "Word Lens", und so konnte er während der Flitterwochen bereits die künftige Version testen, die auch mit Deutsch, Französisch und Italienisch klarkommen soll. "Italienisch ist noch oft abgestürzt, aber Französisch war schon sehr nützlich", sagt DeWeese.
Der 33-jährige Amerikaner, dessen Vater aus Holland stammt, sitzt zusammen mit seinem Geschäftspartner Otávio Good im Büro der gemeinsamen Firma Quest Visual in San Francisco. Good, ein Kalifornier mit brasilianischer Mutter und amerikanischem Vater, trägt ein gelbgrünes Trikot der brasilianischen Fußballnationalmannschaft. Er war es, der vor etwa drei Jahren auf den Gedanken kam, sein iPhone zum Dolmetscher zu machen. "Meine Freundin und ich standen auf dem Frankfurter Hauptbahnhof, am Kiosk lagen überall deutsche Bücher und Zeitschriften, und ich verstand kein Wort", erzählt der 37-jährige Programmierer. "Also dachte ich: Vielleicht kann mein Handy helfen."
Obwohl das iPhone damals noch als Nischenphänomen belächelt wurde, machte Good sich an die Arbeit; zunächst allein, ehe DeWeese dazu stieß. Monatelang tüftelte er, um aus der begrenzten Rechenkraft der Mobilchips das meiste herauszuholen. Das Original-iPhone zeigte sich überfordert, doch mit dem iPhone 3GS, und mehr noch Version 4, gab Apple dem findigen Entwickler, die Rechenpower, die er brauchte. "Word Lens bringt das iPhone an den Rand der Leistungsfähigkeit", erklärt Good. "Ein PC ist immer noch etwa 20 Mal schneller."
Als Spezialist für Computergrafik brachte Good die wichtigste Voraussetzung für seine Aufgabe mit: Er versteht sich darauf, per Bildanalyse dem Rechner das Sehen beizubringen. "Buchstaben zu erkennen ist mit Abstand der schwierigste Teil der Aufgabe", erklärt er. Denn bei jedem Motiv muss die Software zunächst zwischen Wichtigem und Unwichtigem unterscheiden: Was gibt es hier zu sehen? Wo endet der Hintergrund, wo beginnt die Schrift - und was genau steht dort geschrieben? Mit Verzierungen, Handschrift und winzigen Buchstaben ist Word Lens oft überfordert, aber mit Schildern und klar umrissenen Schriftzeichen anderer Art kommt das Handy-Programm erstaunlich gut zurecht.
In den USA längst ein Hit
In den USA wurde Word Lens schnell zum Hit, und mittlerweile wimmelt es von Nachahmern wie dem deutschen "Wordshot" (mit dem die Telekom fleißig Werbung macht). Auch Google und Microsoft haben den Wert einer Dolmetscher-Funktion erkannt: Schon jetzt kann die "Google Goggles"-App Schriften erkennen und übersetzen; Microsofts nächste Version seiner Mobilsoftware Windows Phone 7 <http://www.microsoft.com/windowsphone/de-de/default.aspx>, die im Herbst herauskommen soll, beherrscht ähnliche Tricks. Doch bisher beschränken sich die Verfolger darauf, ihre Übersetzung lediglich auf dem Display einzublenden wie Untertitel. Die meisten Apps analysieren auch nicht das Live-Bild, sondern lediglich Fotos, die einzeln geknipst und über eine mobile Internetverbindung an den Zentralrechner geschickt werden, der sie dann auswertet und das Ergebnis zurückschickt. Das ist vergleichsweise langsam und kann gerade bei Reisen im Ausland sehr teuer werden, da in der Regel Roaming-Gebühren anfallen.
Im Gegensatz dazu speichert Word Lens seine Wörterbücher (die jeweils 7,99 Euro kosten) auf dem iPhone selbst ab. "Roaming-Gebühren wollten wir unbedingt vermeiden", erklärt Otávio Good. "Außerdem könnte Word Lens nie so schnell sein, wenn wir auf das Internet angewiesen wären." Als bisher einzige App seiner Art versteht sich Word Lens nicht nur auf Echtzeit-Bildanalyse, sondern ersetzt auch die Schrift im Live-Bild der Kamera immerfort durch die Übersetzung - fast so, als würde das iPhone Photoshop beherrschen und blitzschnell retouchieren, was die Kamera einfängt. Bei jeder Handbewegung passt sich Word Lens automatisch an die veränderte Situation an und sucht nach einer neuen Übersetzung. Das macht Word Lens zu einem Musterbeispiel für "Augmented Reality", den Trend, die Welt vor Augen mithilfe von Mobilprogrammen um Informationen aus dem Internet anzureichern.
Gewiss, die Übersetzungen aus dem iPhone sind alles andere als perfekt. Fürs Erste beschränkt Word Lens sich darauf, Begriffe im Wörterbuch nachzuschlagen und in der jeweils anderen Sprache anzuzeigen. "Das Ergebnis kann etwas peinlich sein", räumt John DeWeese ein, "aber meistens reicht es aus, damit die Nutzer sich den Sinn erschließen können." Manche Word-Lens-Fans, so wissen die Entwickler aus E-Mails und Gesprächen, tricksen das Programm sogar ganz bewusst aus, indem sie Wörtern teilweise verdecken - nur um zu sehen, welche kuriosen Ergebnisse ihr verwirrter digitaler Dolmetscher liefert. "Wenn die Leute auf den Geschmack kommen, fangen sie an zu spielen", erzählt DeWeese. "Wir hören die lustigsten Sachen."
Deutsche Version lässt noch auf sich warten
Deutsche Nutzer, die darauf warten, dass Word Lens auch mit ihrer Muttersprache zurechtkommt, müssen sich allerdings noch etwas gedulden. Für ihre Tests füttern Good und DeWeese das Programm bisher mit Vokabeln aus dem Fundus der Europäischen Union - auf deren Webseiten finden sich reichlich mehrsprachige Texte, aus denen sich Wörterbücher zusammenstellen lassen. Doch die Entwickler wissen, dass sie damit nur einen Notbehelf gefunden haben. "Es hat sich als schwieriger erwiesen, als wir dachten", sagt Good. "Wir suchen jetzt nach einer neuen Lösung."
Natürlich interessieren sich längst auch die Großen aus der Computerwelt für die beiden Programmierer, die unbekümmert solo vor sich hin basteln und mit ihrem innovativen Reisebegleiter viel Aufmerksamkeit erregen. Doch bisher haben die Word-Lens-Entwickler alle Übernahmeangebote abgelehnt. "Wir wollen nicht verkaufen", erklärt Otávio Good. "Diese Technologie hat enorm viel Potential. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie eines Tages zum Alltag gehört, wenn Touristen in Urlaub fahren." Wer hat schließlich Lust, noch ein gedrucktes Wörterbuch mit sich herumzuschleppen? Und selbst als App auf dem Smartphone sind herkömmliche Nachschlagewerke einem Programm unterlegen, das automatisch die Übersetzung liefert, sobald man rätselhaften Buchstaben in einer fremden Sprache begegnet. "Früher war es lästig, weil man immer erst das Wörterbuch aus der Tasche ziehen musste", sagt Otávio Good. Er grinst breit. "Jetzt macht es einfach Spaß."