Seit Jahrzehnten wird darüber gestritten, wie der Bahnverkehr in Norddeutschland modernisiert und ausgebaut werden kann. Im Zentrum steht dabei die Frage: Reicht es, die bestehende Strecke zwischen Hamburg und Hannover auszubauen – oder muss ein Neubau her?
Die Städte Hamburg, Hannover und Lüneburg sowie der Landkreis Lüneburg haben sich jetzt gemeinsam klar für einen Neubau ausgesprochen. Diesen hält auch die Deutsche Bahn für die beste Option. Niedersachsens rot-grüne Landesregierung plädiert dagegen für eine Lösung im Bestand.
In den kommenden Monaten soll der Deutsche Bundestag über einen möglichen Neubau entscheiden – wann genau, ist noch offen, denn bisher ist der Bericht des Bundesverkehrsministeriums dazu nicht an den Bundestag ergangen, wie ein Ministeriumssprecher mitteilte. Prognosen zu den Kosten sollen erst im Zuge der parlamentarischen Befassung veröffentlicht werden.
Ein Überblick über die wichtigsten Argumente für und gegen einen Neubau.
Argument pro Neubau: schnellere Züge
Die Deutsche Bahn verspricht kürzere Reisezeiten bei einem Neubau, sowohl im Fern- als auch im Nahverkehr. So soll der ICE von Hamburg nach Hannover perspektivisch nur noch 59 Minuten unterwegs sein statt bisher 79 Minuten. Von Soltau nach Hamburg soll es 30 statt 84 Minuten dauern, von Bergen nach Hamburg nur noch 45 statt 142 Minuten und von Bergen nach Hannover dann 30 statt 67 Minuten. In Summe werde eine ganze Region damit neu für den Nahverkehr erschlossen, besonders die Heide.
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"Wir brauchen zwischen den Metropolen vernünftige Verbindungen. Die haben wir nicht", sagte der Landrat des Landkreises Lüneburg, Jens Böther (CDU), über den Status quo.
Argument pro Neubau: verlässliche Züge
Lüneburgs Oberbürgermeisterin Claudia Kalisch (Grüne) beschrieb heute in Hannover, was sie selbst morgens am Bahnhof Lüneburg erlebt habe: Von acht angeschlagenen Zügen seien sechs ausgefallen und die beiden anderen verspätet gewesen – für die Grünen-Politikerin ein Beleg dafür, dass die bestehende Strecke den Anforderungen nicht gewachsen ist.
Die DB selbst spricht von einer der am stärksten überlasteten und damit unpünktlichsten Strecken Deutschlands. Auch Hamburgs Verkehrssenator Anjes Tjarks (Grüne) sagt: "Die Strecke zwischen Hamburg, Lüneburg und Hannover ist hoffnungslos kaputt, sie ist überaltert und sie ist völlig überlastet."
Ein Ausbau im Bestand bringe allerdings nur 20 Prozent mehr Kapazität, sagt Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay, ebenfalls von den Grünen. "Das reicht nicht, um die steigenden Anforderungen in Personen- wie auch im Güterverkehr abzubilden", sagt Onay. "Ein stabiler, pünktlicher und leistungsfähiger Bahnverkehr ist nur mit zwei zusätzlichen Gleisen möglich."
Argument pro Neubau: Funktionierender Staat
Wenn die Bürger am Gleis stehen, müsse der Zug auch kommen, forderte Lüneburgs Oberbürgermeisterin Kalisch. "Wir müssen auch zeigen, dass unser Staat funktioniert", appellierte sie. Es gehe darum, die Weichen zu stellen für das Klima und für die Wirtschaft – und das gehe am besten mit einem Neubau.
Ähnlich argumentierte Hamburgs Verkehrssenator Tjarks: "Wir leben im drittgrößten Industrieland der Erde. Da wird man das doch mal hinkriegen können, mal ein vernünftiges Bahnsystem zu bauen."
Argument pro Bestandsausbau: schnellere Umsetzung
"Wir halten weiter am Ausbau fest", bekräftigte dagegen ein Sprecher von Niedersachsens Ministerpräsident Olaf Lies (SPD) die Position der Landesregierung. Denn: Angesichts der Größe des Neubauprojekts stehe zu befürchten, dass sich ansonsten "über viele, viele Jahre dann nichts tut", sagte er mit Verweis auf Planungsverfahren und großen Widerstand von Betroffenen.
In der Tat richten sich mehrere Bürgerinitiativen gegen das Projekt. Im September demonstrierten mehrere Tausend Menschen gegen den Neubau – die Polizei sprach von 2.500 Teilnehmern, die Organisatoren von 5.000.
"Dem Land geht es um die richtige Reihenfolge: Erst das Machbare umsetzen, dann über weitere Projekte sprechen", sagte ein Sprecher des niedersächsischen Verkehrsministeriums. "Wir sollten weg von der Entweder-oder-Debatte." Wichtig seien schnelle Entlastungen. "Das ist den vielen Pendlern in der Region lange versprochen worden, aber bisher hat die Bahn nichts umgesetzt."
Argument pro Bestandsausbau: Dialogforum von 2015
Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD), der seinen Wahlkreis in der Heide hat, warnte im August davor, "dass Vertrauen in Beteiligungsprozesse verloren geht, wenn verabredete Kompromisse, die mühsam über Jahre erarbeitet wurden, infrage gestellt werden". Hintergrund ist das Dialogforum Schiene Nord, das sich 2015 nach jahrelangen Beratungen für einen Ausbau aussprach.
Allerdings: Sowohl Hamburg als auch die Stadt und der Landkreis Lüneburg betonten heute, sie hätten einem solchen Kompromiss nie zugestimmt. "Es gibt keinen regionalen Konsens", sagte Landrat Böther.
Argument pro Bestandsausbau: Naturschutz
Nach Ansicht des Naturschutzbundes (Nabu) Niedersachsen wäre ein Neubau der ICE-Trasse ein "Rückschritt für Klimaschutz, Naturerhalt und die Akzeptanz der Verkehrswende". Betroffen wären demnach Lebensräume für bedrohte Arten wie Kiebitz, Feldlerche oder Kammmolch. Außerdem stünden erhebliche Flächenverluste für Landwirtschaft, Moor- und Waldgebiete bevor.
Landrat Böther zufolge würden bei einem Neubau hingegen weniger Naturschutzflächen in Anspruch genommen als in der Ausbauvariante.