Lutz Marmor (53). Wie langweilig. Am Ende tut der NDR-Rundfunkrat genau das, was der Verwaltungsrat ihm vorschlug. Ohne Gegenstimme wurde Marmor, der langjährige Verwaltungschef des eigenen Hauses, zum neuen Intendanten gewählt. Auch das Amt des Stellvertreters wurde so vergeben wie vorher ausgemacht: Gewählt wurde Arno Beyer (52), Chef des NDR in Niedersachsen. Mit dieser Lösung kann der NDR leben. Sie zeugt nicht von einem dramatisch direkten Durchgriff der Politik, aber ein Signal des Aufbruchs ist diese Personalie auch nicht.
Lutz Marmor gilt als freundlicher Teamplayer, politisch indifferent, eventuell eher links-liberal als konservativ. Seit 1983 arbeitete er für den WDR, zunächst im Rechnungswesen, zuletzt als Verwaltungsdirektor. Dieses Amt hatte er zuvor eine gute Dekade lang auch im NDR bekleidet. Bemerkenswert ist: Nach der Wende sandte ihn der WDR als Aufbauhelfer gen Brandenburg zum dortigen Landesssender. Diese damalige umfassende NRW-Entwicklungshilfe für Brandenburg war ein eher sozialdemokratisch dominiertes Projekt.
Wichtiger als die parteipolitische Verortung scheint tatsächlich aber das Qualifikationsprofil zu sein. Marmor genießt ARD-weit Ansehen, weil er als Chef der entsprechenden Arbeitsgruppe stets besonnen wirkte. Gekonnt und dezent wickelte er die Geschäfte mit der für die Gebühren-Empfehlung zuständigen KEF ab. Der gelernte Ökonom war bisher kein Mann des Programms, erst recht kein Tänzer auf dem Sonnendeck, sondern Instrukteur im Maschinenraum. So sicherte der Freund des rheinischen Frohsinns den reibungslosen Ablauf der institutionellen Mechanismen. Jetzt muss er ins Rampenlicht, sich irgendwann auch öffentlich programmatisch äußern.
Das Ende der Ära der alten Männer.
Nach Fritz Pleitgen (WDR) und Peter Voß (SWR) beendet nun also auch Jobst Plog (NDR) sein Wirken an der Spitze einer ARD-Anstalt. Die Ära der großen alten Männer neigt sich dem Ende zu. Es gibt einen personellen Umbruch. Die Fünfzigjährigen übernehmen das Ruder. Übriggeblieben von den zu Beginn der 90er Jahre inthronisierten sind nur noch Udo Reiter, Intendant des MDR. Und der "Mister ARD", Programmdirektor Günter Struve, der es verstanden hat die einst zur "Koordinierung" erfundene Funktion zu einem kraftvollen Management umzuwerten. Vielleicht haben diese "kräftigen Kerle", die sich gerne für ihre Sender öffentlich rauften, ihren Häusern die Seele des ganz Besonderen geraubt. Aber sie können unbedingt als Erfolg verbuchen, die Selbstbehauptung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der Zeit des Ansturms des Privatfernsehens geschafft zu haben.
Bewältigt haben sie die folgenden Aufgaben:
- Trotz immer wieder aufflammender Debatten haben sie eine kontinuierliche Steigerung des Gebührenzuflusses hinbekommen - mit Wachstumsraten, nach denen sich andere Branchen, erst recht alle, die ihr Geld selbst verdienen müssen, die Finger lecken würden.
- Sie haben eine flächendeckende Hörfunklandschaft geschaffen
- Sie haben eine vor 15 Jahren undenkbare Ausdehnung in Spartenkanäle hinbekommen
- Ob durch Investitionen in Häuser (Landesstudios und Hauptstadt-Studio) oder in Technik - sie haben eine große Hardware-Expansion bewirkt
- Sie haben wichtige redaktionelle Inhalte (Shows, Talk, Film) ausgelagert, ohne im Gegenzug intern gravierend Stellen kürzen zu müssen
- Sie haben um sich herum eine weit gefächerte Zulieferindustrie, Beteiligungsgesellschaften und von den Sendern selbst dominierte Produktionsfirmen aufgebaut
- Sie haben ihren Dritten Programmen Kultur, Bildung und Experiment weitgehend ausgetrieben; sie stattdessen als Zweitverwertungsplatz (z. B. für "Tatorte") etabliert und zu Heimatsendern für Senioren regionalisiert
- Nicht zuletzt durch teure Sportrecht sowie Trivialitäten am Nachmittag und zur Prime Time haben sie sich in der Quotenjagd behauptet
- Sie konnten dennoch das Image als besonders wertvolles Informationsprogramm bewahren
Diese Verdienst konnten sie auch erarbeiten, weil sie um die politische Prägung des "staatsfernen" öffentlich-rechtlichen Rundfunks wussten, in dieser Welt aber selbstbewusst zu navigieren verstanden. Zur Bilanz gehört aber auch ein hoher Preis, den sie bezahlt haben. Der Kontakt zur Jugend und zur Medienavantgarde ist weitgehend gekappt.
Die Neuen.
Dagmar Reim (rbb), Monika Piel (WDR), Peter Boudgoust (SWR) oder eben Lutz Marmor (NDR) - die Neuen stehen vor völlig neuen Aufgaben, die sie selbst die "Herausforderungen der Digitalisierung" nennen. In der nächsten Phase der Medienentwicklung entscheidet sich, ob und wie ein für den allgemeinen Willen der Gesellschaft womöglich relevanter Rundfunk in der Netzwelt der permanenten Kommunikationsströme bestehen und sich positionieren kann. Natürlich sind die Damen und Herren ARD-Intendanten jeweils ausgeprägte Persönlichkeiten, aber es gibt auch interessante strukturelle Gemeinsamkeiten:
- Bis zur Wahl gab es jeweils Kandidaten-Karussells und Parteiquerelen. Sie waren aber vor der eigentlichen Wahl im Rundfunkrat geklärt.
- "Leicht rosa", "dezent grau", "eher links-liberal", "konservativ, aber nicht autoritär" - so lauten heute die politischen Verortungen der Neuen. Auch wenn der eine oder die andere Parteinähe erkennen lässt: Die neuen Intendanten sind keine Partei-Soldaten. Dies entspricht auch einer Phase von großer Koalition und inhaltlicher Annäherung der zugleich an Gewicht verlierenden ehemaligen "Volksparteien".
- Alle Kandidaten haben sich in den jeweiligen "Findungsgremien" gut präsentiert, aber keiner ist mit einem öffentlich erkennbaren programmatischen Profil angetreten.
- Alle stammen aus den jeweiligen Apparaten. Sie kennen in den Sendern jede Ecke. Sie haben ihr gesamtes berufliches Leben dort verbracht. Sie kennen nichts anderes. Quereinsteiger gibt es nicht, nur lineare Laufbahnen. Prädestiniert für die Intendanz ist der vorherige Verwaltungschef. Die Personalpolitik des großen öffentlich-rechtlichen Verbundes ARD verläuft also völlig anders als etwa bei den großen privaten oder privatisierten Konzernen wie Deutschen Bahn AG, Telekom, Siemens oder VW. Wenn schon rundum alles in den Strudel eines großen Wandels gerät, soll die Führung nicht in erster Linie durch kantige Programmatik auffallen, sondern Verlässlichkeit signalisieren. Wie weit das trägt, wird sich zeigen, zunächst besteht die Führung der ARD auch nach dem personellen Umbruch aus Institutionsbewahrern und Kontinuitätsgaranten.