Lewis Capaldi hat keinen Kleiderschrank. Er hat ein Flyht Pro Wardrobe Tour Case. Seine Turnschuhe, seine Jeans, seine berüchtigte Sonnenbrillensammlung und was sonst noch so herumfliegt, kommt in die schwarze Kiste mit Metallschnallen und wird von Zürich nach München, nach Wien und weiter nach Helsinki gebracht.
Seit Monaten ist Lewis Capaldi mit seiner Band auf Tournee, bald steht der erste Auftritt in den Vereinigten Arabischen Emiraten an. Vor kurzem eroberte er zum ersten Mal die Spitze der US-Charts. Es war der Höhepunkt eines an Höhepunkten nicht armen Jahres.
"Bruises" wurde mehr als 25 Millionen Mal gestreamt, noch ehe Capaldi überhaupt einen Plattenvertrag hatte. Bevor sein Album veröffentlicht war, wurde schon seine Stadiontournee angekündigt. Das hatten selbst Musikexperten noch nie erlebt. Sein Album bewarb er mit einem hässlichen Foto von sich, auf dem er eine alberne Brille mit roten Gläsern und einen Handtuchturban trägt. Das Motiv wurde großflächig in den Londoner U-Bahnhöfen ausgehängt. Darauf stand: "The Scottish Beyoncé on a London Underground billboard. Finally famous."
"Fuck"
Er flog zum ersten Mal im Privatjet; für den Flug zog er sich einen Leopardenmantel und Fischerhut an und futterte Fastfood. Am Times Square in New York wurde ein Plakat von ihm angebracht, das über ein gutes Dutzend Stockwerke ging. Elton John lud ihn auf sein Anwesen ein und gab Karrieretipps, David Hasselhoff klopfte an seiner Tür, um ein Selfie mit ihm zu machen und vorzuschlagen, sie könnten ja mal ein Album zusammen aufnehmen. Und dann, nach diesen zwölf Monaten, landete er als erster Schotte seit Sheena Easton 1981 auf der Nummer 1 der US-amerikanischen Billboard-Charts, den noch immer wichtigsten Charts der Welt.
Kein schlechter Zeitpunkt, um mal nachzufragen: Wie geht’s? Wie ist das Tourleben 2019? Wie steht’s mit Sex, Drugs and Rock’n’Roll? Und dann wollten wir wissen: Ist der wirklich so nett wie alle sagen?
"No, I’m a dick", kontert Lewis Capaldi, lacht und bietet einem dann den deutlich bequemeren Ledersessel an, um sich selbst auf den Holzstuhl in einem fast gnadenlos kahlen, neonbeleuchteten Raum backstage zu setzen. Nur die Gitarre sitzt bequemer: auf einem gelben Sesselchen im Eck. Für seine Selbstironie ist Lewis Capaldi bekannt. Sein Auftritt an diesem Abend wird so unterhaltsam sein, dass es schwer ist zu sagen, ob es ein Stand-up-Programm eines Schotten ist, der singen kann, oder der Auftritt eines Musikers, der auch noch unheimlich lustig ist.
Drei Stunden vor dem Auftritt. Vor der Halle in München warten bereits die Hardcore-Fans bei ein paar Grad auf den Einlass, vor allem junge Frauen, aber nicht nur. Zwei Mädchen haben sich in zwei goldene Rettungsdecken gehüllt. Drinnen hängt die Band in einem großen Raum mit roten Sofas ab, im Zimmer nebenan liegt noch der aufgeklappte Laptop von Lewis Capaldi, ein Schnittprogramm ist noch geöffnet. Er tüftelt offenbar noch selbst an seiner Musik. Und? Wie geht’s? "Okay", sagt Lewis Capaldi, er ist erkältet, was auch einen Hinweis darauf geben könnte, weshalb er angezogen ist wie ein Drittklässler mit Fieber: Er trägt einen Hoodie mit einem aufgestickten Teddy, die Kordel am Hals zur Schleife gebunden. Es wird sich herausstellen, dass diese Erkältung ein Glücksfall ist: Denn Capaldi, der schnell in Blödeleien verfällt, antwortet ehrlich und ernst.
"Popstar ist mein erster Job", sagt er. Er ist aus seinem Elternhaus aus- und im Tourbus eingezogen. Aufgewachsen ist er in der schottischen Kleinstadt Bathgate. Jedes i klingt wie ein e, in jedem Satz verwendet er mindestens ein "Fuck". Sein Vater ist Fischhändler, seine Mutter Krankenschwester, einer seiner besten Freunde, Michael, ist Totengräber. Verstehen die, was ihm gerade passiert? "Nein", sagt er. Und setzt nach: "Ich übrigens auch nicht."
Beef mit Noel Gallagher
Lewis Capaldi hat im Mai sein erstes Album "Divinely inspired by a hellish extent" veröffentlicht, zwölf Songs sind darauf, die er immer wieder spielt. Hand aufs Herz, langweilt das nicht manchmal? "Nein, überhaupt nicht. Ich ziehe meinen Spaß aus dem Performen und daraus, die Menschen zu beobachten, wie sie auf den Song reagieren, wie sie sich freuen oder traurig werden. Du siehst die Emotionen, die du hattest, als du das Lied geschrieben hast." Capaldi denkt nach. Eine Alternative gebe es eh nicht. "Ich war früher ständig auf Konzerten und habe es gehasst, wenn die Musiker ihre Hits in einer komplett anderen Version gespielt haben. Oder gar nicht. Die Menschen zahlen, um dich spielen zu sehen. Ich dachte immer: Just play your fucking big songs!" Das Schottische kommt jetzt durch, genau genommen sagt er "bag songs", Handtaschenlieder. Von nebenan dringen nun Walgesänge durch die Wand, aaahaahaa! Es ist Donna Missal, die in München sein Support sein wird und sich warm singt.
Im Juni spielte Lewis Capaldi auf dem Glastonbury-Festival, einem der größten Open-Air-Musikfestivals der Welt. Noel Gallagher hatte sich im Vorfeld in einem Fernsehinterview darüber beschwert, dass die aktuelle Musik so schlecht sei, und gefragt, wer überhaupt dieser "Idiot", dieser "Capaldi fella" sei – worüber der sich tierisch freute, schließlich ist Beef mit Noel Gallagher Ehrensache, da der ehemalige Oasis-Sänger praktisch mit jedem streitet. Beim Glastonbury trat Capaldi dann subversiv "als Liam Gallagher verkleidet", wie Capaldi sagt, auf: Mit dessen typischer Frisur, einem Fischerhut und Parka. Als er den Parka öffnete, sah man: Noels Gesicht in einem roten Herz. Beide Brüder sind seit langem zerstritten. So lachten am Ende alle über den gelungenen Streich und über die Zanksucht der Gallaghers – eine elegante Art, mit Kritikern umzugehen. Später küsste er noch Anaïs Gallagher, die ein Fan von ihm ist, womit er den Streit endgültig gewonnen hat. Und wie war der Auftritt? Blickt man da auf eine einzige große Schafherde? Oder erkennt man noch was? "Nö, man sieht nur ein Meer aus Menschen. Ich hab mir vor Angst beinahe in die Hose gemacht. Der erste Song war 'Grace' – und man hört, wie meine Stimme zittert, weil ich so nervös bin", erzählt Capaldi.
Wenn Capaldi Geschichten aus seinem Leben erzählt, klingen sie oft so: immer aus der Sicht des Underdogs, oft thematisiert er seine eigenen Unzulänglichkeiten. Gepaart mit seinem freundlichen Gesicht und dem schottischen Akzent ergibt das genau das, was den Zeitgeist begeistert: Authentizität. Die Geschichten sind allerdings nie so, als sei Capaldi Opfer des Systems, sein Selbstbewusstsein scheint immer durch. "Ich hab mich dann konzentriert, um es nicht zu vermasseln. Aber am Ende war ich vor Rührung schon den Tränen nahe", sagt Capaldi über Glastonbury.
"Beeindrucke mich, du Arsch"
Merkt man denn am Publikum, in welchem Land man gerade auftritt? "Letztes Mal als ich in Deutschland gespielt habe, war meine Stimme angeschlagen. Der Trick, wenn man heiser ist: einfach so oft wie möglich mitsingen lassen. Aber Hamburg wollte einfach nicht. Ich hab’s mehrfach versucht." Und in der Schweiz? "In der hinteren Hälfte des Publikums wird’s in der Schweiz auch steifer. Aber in Amerika möchten es einem die Zuschauer immer leicht machen und gehen von Anfang an mit. Während in Europa und dem Vereinigten Königreich die Zuschauer erst einmal die Haltung haben: 'Impress me, you fucking dick!'", los, beeindrucke mich, du Arsch.
Sein Handy brummt, Lewis Capaldi, ganz wohlerzogener Popstar, murmelt "sorry, cheers" und dreht es um. Sein Hintergrundbild? Es sieht so aus, als sei es das rote Cover seines Albums "Divinely uninspired to a hellish extent".
Als er ein paar Tage zuvor erfahren hatte, dass er die Nummer 1 der US-Billboard Charts ist, bemalte ihm jemand das Gesicht rot, weiß, blau, in den Farben der US-Flagge, er spritzte backstage eine Flasche Champagner leer und postete das Gif auf Instagram. Und wie wurde weitergefeiert? "Noch gar nicht! Wenn diese Europatour vorbei ist, an einem Dienstag, dann werde ich zuhause in Schottland feiern und mich sowas von besaufen! Ich habe die ganze Tour nichts getrunken." Wie bitte? "Naja, eigentlich nur mit Ed Sheeran. Wir haben uns ziemlich betrunken, was bemerkenswert ist, weil wir nur vier Gigs zusammen hatten." Was wurde denn bitteschön aus Sex, Drugs und Rock’n’Roll? "Sodbrennen!", sagt Lewis Capaldi und muss selbst lachen. Kein Sex auf der Tour? "Kein Sex." Das bestürzt natürlich. Gibt es denn keine Groupies mehr? Ist er noch auf der Dating-Plattform angemeldet, die mit ihm dieses Jahr warb? "Ja, aber seit der Aktion habe ich zu viele Matches. Es ist fast ein Wettbewerb geworden." Das letzte Date mit jemanden von der Plattform hatte er "vor ein paar Monaten". Lewis Capaldi macht die Art Musik, bei der man früher den Daumen auf dem Feuerzeug liegen ließ und heute den Daumen über dem Smartphone-Aufnahmeknopf schweben lässt. Sind denn Liebeslieder mit Happy End in Sicht? "Es klingt jetzt wirklich furchtbar, ich weiß, aber in einem meiner neuen Lieder – 'Before you go' – geht es um Selbstmord." Vermutlich hat noch kein Popstar die Frage nach seinem Liebesleben so sensibel abgewürgt.

Und Drogen? "Drogen sind nicht so mein Ding. Und Vapen kann ich nicht, weil es meine Stimme ruiniert." So hört sich das Tourleben eines Megastars im Jahr 2019 an. "Ich denke, Drogen sind bei den Jungen nicht mehr so in, weil wir die erste Generation sind, die gesehen hat, welche Folgen diese Sex, Drugs and Rock’n’Roll-Attitüde hat. Egal, ob man die Mötley-Crüe- oder Jimi-Hendrix-Doku auf Netflix ansieht, weiß man: Das endet nicht gut. All die Rockstars von früher sind heute nüchtern. Und die Jungen denken sich: Ich will eigentlich gar nicht meine Stimme verlieren. Ich will eigentlich gar nicht an einem Drogencocktail sterben." Einen Personal Trainer haben sie jetzt neuerdings auch mit auf Tour, erzählt Lewis Capaldi, das sei sehr schön, aber eben auch "fucking horrible": "Ich hasse Sport, aber es hilft. Meine Panikattacken sind verschwunden."
Harmlose Streiche, viel gute Laune
Wie das Tourleben ansonsten aussieht, kann man auf Instagram ziemlich minutiös mitverfolgen: Karaokesingen, im Tourbus sitzen, sich mit stinkigen Socken bewerfen, Sam Fender hören und ausgelassen dazu tanzen, mit George Ezra einen trinken gehen. Harmlose Streiche, viel gute Laune. Lewis Capaldis Instagram-Stories sind eine Oase des Nonsens’ und der guten Laune – keine Politik, kein Ärger – und wahrscheinlich deshalb so beliebt.
"Du kannst der beste Gitarrist der Welt sein, aber entscheidend ist, dass ich gut mit dir auskomme." Bis auf den Schlagzeuger Freddy Sheed hat noch kein Bandmitglied auf diesem Niveau getourt. Den Pianospieler Aiden Halliday habe er bei einem Gig in Glasgow gefunden, der Gitarrist Andy Black hat eine E-Mail geschrieben "und er wirkte nett". Und wie fand er den Bassisten Aidan Beattie? "Mit ihm bin ich befreundet, seit ich vier bin. Er ist eigentlich gar kein Bassist." Aber Capaldi wollte ihn unbedingt dabeihaben. "Mein Tourmanager hat gesagt: 'Das ist eine schlechte Idee'." Kunstpause Capaldi. "Aber wenn man jemandem eine Chance gibt, dann nutzt der sie auch. Aidan wurde richtig gut." Und so kam es, dass Aidan nicht erst in kleinen Spelunken spielte. "Sein erster Auftritt war direkt im Fernsehen."
Auch das ist eine jener Geschichten, die hochgradig unrealistisch klingen. Der Superstar, der praktisch keine Dates hat. Der Bassist, der nicht Bass spielen kann. Der schottische Fischhändlersohn, der an die US-Chartspitze schießt. "Ich bin mir sicher, dass ich nie mehr einen Nummer-1-Hit landen werde und bin froh, wenn das nächste Album noch halb so viele Menschen hören wollen", sagt Capaldi, wuschelt sich durch die Haare, die aussehen als teile er sich einen Frisör mit Boris Johnson, und das Interessante daran ist: Es klingt zu keinem Zeitpunkt wie Koketterie. Wahrscheinlich verhält man sich einfach so, wenn man bodenständig aufwächst und vom Pub-Sänger zum Weltstar aufsteigt, wenn man mit 17 in West Lothian einen Song schreibt, den bald in Tokio performt und Elton John einen an die Côte d’Azur zum Mittagessen einlädt.
Lewis Capaldi ist eigentlich nichts heilig
Lewis Capaldi, dem eigentlich nichts heilig ist, merkt man da dann doch an, dass ihm das Treffen mit Elton John viel bedeutete. Hühnchen habe es gegeben, Gemüse, Shrimps, "sehr viel gesundes Zeug". Er spricht "Shrimps" mit einem ploppenden p wie ein Feine-Leute-Essen aus, aber ansonsten fehlt der typisch ironische Unterton. "Elton John sagte mir, 'Bruises' sei sein Lieblingslied. Er hat das Album ordentlich durchgehört!" Hat er ihm einen Tipp gegeben? "Er sagte, ich soll mal eine Nummer alleine am Klavier spielen. Das mache ich auf der nächsten Tournee. Wenn einem Elton John das rät ..."
Es existiert ein Foto von der Begegnung, auf dem die Beiden grinsend nebeneinander sitzen: der alte Typus des Popstars neben dem des neuen. Elton John sieht aus wie Elton John, mit rosagetönter Brille und einem Blumenhemd einer Luxusmarke. Lewis Capaldi trägt sein festlichstes, schwarzes Longsleeve. Das Foto posteten später beide. Elton John schrieb dazu: "Verbringe den Tag mit dem nächsten britischen Superstar: Lewis Capaldi." Capaldi schrieb in seiner typischen Art: "Mein Leben ist verdammt verrückt. Danke für das kostenlose Essen, Elton John."