Als Karine Pierre den Clanchef Abu Hassan Schahrur zum ersten Mal traf, hob er den Arm und zielte mit dem Zeigefinger auf sie. Die Botschaft war unmissverständlich: Wage es nicht, mich zu fotografieren!
Die Geschichte könnte hier enden. Die Fotografin hätte es mit der Angst zu tun kriegen, sich freundlich bedanken und das Haus am südlichen Stadtrand von Beirut schleunigst wieder verlassen können. Doch sie tat etwas anderes: Sie bot ihm an, das Bild nur für ihn zu machen, als Geschenk. Und wenn er kein Bild wolle – auch gut. Die Lage entspannte sich: Er posierte, zeigte seine dicken tätowierten Oberarme. „Und wenn du ein Bild machen kannst“, sagt Karine Pierre, „kannst du Tausende machen.“

Seine engsten Vertrauten nennen ihn Ali. Abu Hassan Schahrur ist in der Gemeinde Ghubeiri einer der mächtigsten Männer. Ghubeiri gehört zur Dahiyeh, der südlichen Vorortregion der libanesischen Hauptstadt. Hier ist, gemeinsam mit der Amal-Bewegung, die schiitische Hisbollah-Miliz besonders einflussreich, deren bewaffneter Arm von der EU als Terrororganisation gelistet wird und die seit 2020 in Deutschland einem Betätigungsverbot unterliegt. Es ist eine der ärmsten Gegenden des Großraums Beirut, südlich des palästinensischen Flüchtlingslagers von Schatila gelegen, ein Flickenteppich aus engen Gassen, durch die sich die Sabra-Straße zieht: Marktstände reihen sich hier aneinander, zwischen Motorradfahrern und Fußgängern gibt es tagsüber kaum ein Durchkommen. Hier ist der libanesische Staat abwesend: Die Armee betritt das Gebiet nicht, und vereinzelte korrupte Polizeivorsteher kommen nur, um einzukaufen oder Schmiergeld zu ziehen. Hier herrschen die Clans. Der mächtigste unter ihnen: die Familie Schahrur.