Das Bundesverfassungsgericht hat die Mitspracherechte des Bundestags in Fragen der weiteren europäischen Integration erneut gestärkt. Laut einem am Dienstag in Karlsruhe verkündeten Urteil muss die Bundesregierung das Parlament künftig so früh wie möglich über internationale Verhandlungen wie etwa zum Euro-Rettungsschirm ESM informieren und dem Bundestag eine Mitwirkung daran ermöglichen. Die Abgeordneten dürften nicht erst dann eingebunden werden, wenn sie die Handlungen der Regierung nur noch abnicken könnten, sagte Verfassungsgerichts-Präsident Andreas Voßkuhle. Die Entscheidung im Zweiten Senat fiel einstimmig. Geklagt hatte die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, die die Rechte des Parlaments verletzt sah. Um die Verfassungsmäßigkeit von ESM und Euro-Plus-Pakt selbst ging es bei der Organklage nicht.
Voßkuhle wies die Argumentation der Regierung zurück, wonach es bei internationalen Verhandlungen hinderlich sei, wenn zu früh zu viele Informationen an den Bundestag gingen. Dieses Argument gelte für viele konstituierende Elemente in Deutschland im Alltag - auf den ersten Blick. "Auf längere Sicht bilden diese Elemente aber zusammen mit anderen das Fundament eines leistungsfähigen, stabilen und ausgewogenen Gemeinwesens", sagte Voßkuhle. Nur dann finde es auch den nötigen Rückhalt in der Bevölkerung. "Mit anderen Worten: Demokratie hat ihren Preis. Bei ihr zu sparen, könnte aber sehr teuer werden", sagte Voßkuhle.
Monatelang von Entscheidungen ausgeschlossen
"Sieg! Ein guter Tag für die Demokratie in Deutschland und Europa", twitterte der parlamentarische Geschäftsführer der Grünen-Fraktion, Volker Beck. Seine Fraktion hatte sich am Vorgehen der schwarz-gelben Koalition zwischen Februar und April 2011 gestoßen. ESM und Euro-Plus-Pakt seien bereits im Februar grundsätzlich abgemacht worden. Ende März gab es über beide feste Vereinbarungen. Die Kläger kritisierten, der Bundestag sei jedoch trotz mehrfacher Aufforderungen erst im Mai informiert worden. Die Abgeordneten hätten sich die Papiere von befreundeten Parlamenten besorgen müsse oder deren Inhalt aus der Presse erfahren, hatte Beck in der Verhandlung im November 2011 geklagt. Damit hätten sie monatelang nicht an Entscheidungen von erheblicher Tragweite mitarbeiten können.
Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin hatte auf die Karlsruher Entscheidung gehofft. "Wir entscheiden beim ESM über etwas, das ist größer als ein einjähriger Bundeshaushalt. Da kann es nicht sein, dass die Bundesregierung im Blindflug entscheidet", sagte Trittin. Es gehe dabei um das Geld der Steuerzahler, um den Kernbereich der Rechte des Parlaments.
Rettungsmaßnahmen müssen transparenter werden
Das sah auch das Verfassungsgericht so: "Die Unterrichtung muss dem Bundestag eine frühzeitige und effektive Einflussnahme auf die Willensbildung der Bundesregierung eröffnen", so Voßkuhle mahnend. Das Parlament sei gerade deshalb stärker in den Prozess der europäischen Integration einzubinden, weil sich mit der Europäisierung ohnehin die Kompetenzen zugunsten der nationalen Regierungen verschöben. Der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Thomas Oppermann, sagte: "Die Eurorettungsmaßnahmen müssen transparenter und für die Menschen nachvollziehbarer werden. Da hat die Bundesregierung eine Bringschuld gegenüber Parlament und Öffentlichkeit." Das Urteil müsse nun auch im laufenden Gesetzgebungsverfahren zu ESM/Fiskalpakt umgesetzt werden.
Westerwelle verspricht Umsetzung
Außenminister Guido Westerwelle (FDP) kündigte in Berlin an, die Bundesregierung werde das Urteil "selbstverständlich nach bestem Wissen und Gewissen durchsetzen". Die enge Einbindung des deutschen Bundestags in europäische Angelegenheiten sei "ein wichtiges Anliegen, das auch im Interesse der Europapolitik Deutschlands" liege.
Staatssekretär Werner Gatzer aus dem Bundesfinanzministerium räumte die Niederlage ein: "Mit der Klarheit hätte ich das nicht erwartet." Nun müsse man mit dem Parlament überlegen, wie die nötige Vertraulichkeit in internationalen Verhandlungen und die Handlungsfähigkeit der Regierung trotzdem gewährleistet werden könne. Die Regierung werde jedoch künftig früher informieren müssen. "Es erschwert einen Diskussionsprozess, wenn man auch Wasserstände darstellen muss", sagte Gatzer in Karlsruhe. Doch darum gehe es nicht, betonte der Verfassungsgerichtspräsident. So lange sich die Bundesregierung selbst nicht einig sei, müsse sie das Parlament nicht einbeziehen. Doch wenn sie selbst schon mit Vorschlägen an die Öffentlichkeit gehe oder ihre Position in den Verhandlungen klar sei, gebe es keinen Grund, dies dem Bundestag vorzuenthalten.