Erster November – Zeit für die Siegesfeier. Denn Putin hat den Krieg spätestens jetzt verloren. Das haben zumindest westliche Experten genau so berechnet und berichtet. Im Frühjahr, noch vor der Sommeroffensive, hat etwa Marcus Keupp, Militärexperte der ETH Zürich, jedem, der es hören wollte, mathematisch eindeutig erklärt, dass Russland spätestens im Oktober keinen einzigen einsatzfähigen Panzer mehr besitzen würde.
Das Ganze kam nicht als These daher, sondern als Fakt. Untermauert mit exakten, knallharten Statistiken. Bestand, Produktion und Verluste – eine einfache Gleichung: Im Oktober gehen Putin die Panzer aus. Ob nun Wunschdenken oder Fake-News, falsch war es allemal.
Günstige Prognosen heben kurz die Stimmung
Und Keupp steht nicht allein da. Ex-General Ben Hodges liefert eine Siegesprognose nach der anderen. Der Grund ist verständlich: Die Bevölkerung im Westen soll mitziehen. Und sie lässt sich leichter mit Siegeszuversicht als mit düsteren Aussichten motivieren. Steilste These im Frühjahr: Im August könnte die Krim befreit sein. Immerhin sagte Hodges "könnte". Es folgten weitere Prognosen: der Durchbruch zum Meer, der Zusammenbruch der russischen Streitkräfte. Geschehen davon ist nichts.
Die Liste lässt sich endlos fortsetzen. Im Frühjahr wurde die Überlegenheit der westlichen Kampfpanzer insbesondere des Leopard 2 und des US-Schützenpanzers Bradley beschworen. Auch nachvollziehbar. Die Bevölkerung in Deutschland war in der Frage, ob schwere Rüstungsgüter exportiert werden sollen, eher zurückhaltend. Lobreden auf den Kampfpanzer streichelten auch das deutsche Ego. Irgendeine kriegs- oder auch nur schlachtentscheidende Wirkung der "Wunderwaffen" ließ sich nicht erkennen. Zuvor wurde prognostiziert, dass Putin schon Ende 2022 alle smarten Waffen ausgehen werden. Weil die Sanktionen des Westens seine Rüstungsindustrie von Halbleitern abschneiden würden.
Geschehen ist das exakte Gegenteil. Zur Jahreswende litt Moskau unter einem Mangel an bestimmten Bauteilen, etwa Wärmebildkameras. Doch das Problem wurde gelöst. Inzwischen stellt das Land Kamikaze-Drohnen in einem unerhörten Maßstab her und jede einzelne dieser Billigdrohnen benötigt Chips und elektronische Bauteile. Offenbar sind sie in Hülle und Fülle vorhanden.
Ein Wunder ist das nicht, Waffen benötigen keine Hochleistungschips der neuesten Generation. Was auch den Laien nicht aus dem Konzept bringen sollte. Die meisten Westwaffen, die in die Ukraine gelangen, wurden vor mehr als zehn Jahren gebaut. Und zwar mit den Chips, die damals zur Verfügung standen.
Die Flucht ins Nicht-Beweisbare
Die ukrainische Sommeroffensive konnte am Boden keine großen Gewinne vorweisen. Die angeblich unmotivierten Russen liefen nicht davon, das altmodische Stellungssystem ließ sich nicht beiseite schieben, wie gedacht. Es hielt stand. Nur etwas mehr als ein Dutzend kleiner Ansiedlungen wurden befreit. An einem Zipfel gelang es, zehn Kilometer in die russischen Linien einzubrechen.
Doch auch das war kein Grund zur Besinnung, nun wurde das Narrativ "yes, but at what cost" reaktiviert. Hier in der Variante: "Ja, die Russen halten die Stellung, aber sie erleiden unerträgliche Verluste." Dass bei der Eröffnung einer Offensive die sich auf dem freien Feld nähernden Angreifer in einer bedrohlicheren Situation sind als die verschanzten Verteidiger – die zudem bei Artillerie und Luftwaffe überlegen waren – wurde übersehen.
Generell ist es richtig, dass die Russen schwere Verluste erlitten und erleiden. Doch die Verluste der Ukraine werden möglichst kleingeredet. Sie könnten die Zuversicht im Westen trüben. Beim Sturm auf Awdijiwka haben die Russen inzwischen weit über 100 gepanzerte Fahrzeuge verloren, sie werden akribisch gezählt. Gleichzeitig werden die Stellungen der Ukrainer mit schweren Bomben, thermobarischen Raketenwerfern und Phosphorgranaten belegt – auch das wird zu Verlusten führen. Ein anderes Beispiel: In der letzten Zeit hat Russland jeden Monat mehr als 800 Ziele mit einigermaßen präzisen Gleitbomben angegriffen. Unwahrscheinlich, dass sie dabei nur Fahrkarten geschossen haben.
Das Granaten-Drama
In diesen Wochen platzte die nächste Illusion. Die Lieferung von einer Million Granaten innerhalb eines Jahres aus der EU sollte die Überlegenheit der russischen Artillerie brechen. Entsprechend wurde die Kraftanstrengung der EU gefeiert. Tatsächlich wurden im ersten Halbjahr lediglich 223.800 Stück geliefert. Größtenteils aus dem Bestand und nicht aus der Produktion. Unklar ist derzeit, wo der fehlende Anteil von über 750.000 Schuss in den nächsten Monaten herkommen soll. Und dann muss auch das Budget wohl nachverhandelt werden. Die "Welt" berichtete, dass der Durchschnittspreis einer Granate von 2000 Euro auf mittlerweile 3600 Euro gestiegen sei und vermutlich noch weiter steigen wird. Das heißt, für das gleiche Geld gibt es weit weniger Stück.
Wie sieht es bei Putin aus? Nordkoreas Machthaber Kim Jong Un versprach Russland Hilfe und er lieferte prompt. Nach konservativen Zählungen haben 1000 Container mit über 500.000 Granaten Russland bereits erreicht – einen Monat nach der Zusage. Der südkoreanische Geheimdienst nimmt sogar an, dass bereits eine Million Stück nach Russland gebracht wurden. Wie viel Munition Nordkorea dem Kreml geben wird, ist nicht bekannt, doch Kims Arsenal ist so groß, dass er Millionen von Granaten liefern könnte. Nur aus dem Magazin.
Zusätzlich könnte der Diktator die Neuproduktion steigern. Auch Russland hat seine Rüstungsproduktion ausgeweitet und wird es weiter tun. Für diese Herausforderungen muss der Westen eine Antwort finden, in nicht allzu ferner Zukunft sind die Bestände an alten Waffen aufgebraucht. Und was kommt dann?
Die Realität hat den längeren Atem
Das bedeutet nicht, dass Kiew den Krieg verlieren wird, es heißt aber, dass ein militärischer Erfolg – wie immer man ihn definiert – sehr viel schwerer zu erreichen sein wird, als behauptet. Die Verluste werden größer sein, es wird länger dauern und der Westen muss noch – viel – mehr helfen als bisher.
Allzu optimistische Prognosen nutzen Kiew nichts, sie schaden. Das breite Publikum wird nur erinnern, dass diesen Prognosen nicht zu trauen ist. Und Misstrauen ist das Letzte, was Kiew nun braucht. Tatsächlich muss die Bevölkerung für stärkere Kriegsanstrengungen gewonnen werden. Schönfärberei ist der falsche Weg, denn sie wird immer von der Realität eingeholt.