Wir haben verloren», bekannte Daniel Waldrop. «Es war schrecklich. Ungeheures Durcheinander, überall knallte es, keiner wusste, wer Feind war und wer nicht. Wir sind alle bei einem Angriff gefallen. Mich hat ein Scharfschütze abgeknallt», berichtete der Gefreite, Sohn einer deutschen Mutter und eines US-Soldaten.
Zusammen mit etwa 5500 Mann von der 101. Luftlandedivision der US-Armee hatte Waldrop auf dem riesigen Übungsgelände von Fort Polk im Bundesstaat Lousiana den gemeinsamen Kampf mit Einheiten der Rangers, Heeresflieger und »Green Berets« geübt. »Was die Jungs hier lernen«, betonte General Charles Swannack, »können sie in jeder Situation da draußen gebrauchen.« Auch wenn keiner direkt von Afghanistan sprach, war doch allen klar, dass dies »die letzte Generalprobe« ist, so Waldrop: »Wir werden nach und nach alle dahin gehen.«
Geprobt haben die Soldaten von der 1. Brigade der »One-O-One« vor allem den Kampf in der Dunkelheit. Doch weil die Angriffsvorbereitung mit Artillerie und Maschinengewehrfeuer den Überraschungseffekt beim Manövergegner zunichte machte, ging in siebenstündigen Kämpfen unter sternenklarem Himmel so ziemlich alles schief. Da nützten auch die 3000 Dollar teuren Nachtsichtgeräte nichts, die jeder Soldat an den Helm geschraubt hatte.
Immer wieder klingelten die Kontaktknöpfe auf dem Gurtgeschirr, das die Manöverteilnehmer tragen mussten; es registiert die Laserstrahlen der gegnerischen Waffen. Rote Blinklichter, von Manöverschiedsrichtern gesetzt, zeigten zudem an, wenn ein Panzerfahrzeug oder Geländewagen mit MG »ausgeschaltet« war.
»Das ist nur eine Übung«
Die hohen Verluste, 59 »Tote« bei den Blauen, 28 beim Gegner, machten den Kommandeuren bei der Manöverkritik sichtlich Sorgen. »Aber das ist nur eine Übung, da ist man leichtsinniger«, tröstete sich Oberst Al Dochnal, »und es ist immer besser, solche Erfahrungen nicht erst auf dem Schlachtfeld zu machen.«
Doch auch die Meldungen aus Afghanistan klingen für die US-Strategen nicht eben ermutigend. Die viel gepriesenen Eingreiftrupps der Supermacht konnten nicht verhindern, dass Abdul Haq, einer der wenigen Hoffnungsträger für einen politischen Neuanfang in Afghanistan, vergangenen Freitag von Taliban gefangen genommen und getötet wurde. Ein Paschtune, der ausnahmsweise kein Taliban-Sympathisant war und zugleich ein Kriegsheld, vom Volk verehrt wegen seines Widerstands gegen die sowjetischen Besatzer.
Eine Woche zuvor hatten Fallschirmjäger eine nächtliche Kommandoaktion in Kandahar unternommen, deren Ziel und
Ergebnis bis heute unklar ist. Zwei amerikanische Piloten kamen am Rande der Operation beim Absturz ihres Hubschraubers in Pakistan dicht an der afghanischen Grenze ums Leben - angeblich ohne Feindeinwirkung.
»Kollateralschäden« häufen sich
Washington musste einräumen, dass in den Bombardements seit dem 7. Oktober immer wieder zivile Ziele getroffen wurden, darunter Wohnhäuser, insgesamt vier von fünf Lagerhäusern des Roten Kreuzes in Kabul und ein Altenheim in Herat. Wie die Vereinten Nationen ermittelten, hatten die USA in der westafghanischen Stadt Streubomben eingesetzt. In Herat und Kabul wurden nach Angaben der Taliban auch Krankenhäuser zerstört. Und das iranische Fernsehen meldete, in einem Dorf bei Herat seien 16 Menschen auf dem Weg in die Moschee getötet und 25 verletzt worden.
Dabei hatte das Pentagon nach den ersten nächtlichen Angriffen siegessicher verkündet, die Bomber könnten nun auch bei Tageslicht fliegen und dadurch noch präziser militärische Anlagen bekämpfen. »Bereits am dritten Tag der Angriffe brüstete sich das US-Verteidigungsministerium, es habe ,Lufthoheit über Afghanistan erlangt? - wollen die damit sagen, sie hätten beide oder vielleicht alle 16 Flugzeuge Afghanistans zerstört?«, fragte die Schriftstellerin Arundhati Roy in einem scharfzüngigen Essay im indischen Wochenmagazin »Outlook India«.
Taliban demonstrieren unverminderte Kampfkraft
Trotz der Luftschläge, die am Samstag und Sonntag noch heftiger wurden, demonstrierten die Taliban unverminderte Kampfkraft. Schon zuvor hatte Konteradmiral John Stufflebeem vom US-Verteidigungsministerium darüber gestöhnt, »wie hartnäckig sich die Taliban an der Macht« hielten. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld äußerte öffentlich Zweifel, ob es gelingen werde, Terroristenchef Osama bin Laden zu fassen. »Es gibt viele Länder. Er hat viel Geld, er hat viele Unterstützer. Ich weiß einfach nicht, ob wir Erfolg haben werden.« Die Taliban würden aber gestürzt werden, ergänzte er in einem Interview mit der Zeitung »USA Today«.
Die Supermacht, die ausgezogen war, den Terror zu bekämpfen, hat sich von ihrem wichtigsten Kriegsziel offenbar verabschiedet. Für die mörderischen Anschläge vom 11. September müssen nun allein die Taliban den Kopf hinhalten. Aber ist der Sturz des Regimes von Kabul das Völkerrechtsanliegen, dem der UN-Sicherheitsrat seine Zustimmung gegeben hat?Amerika war gewarnt, dass Attentäter nicht mit Bomben zu bestrafen sind. »Der böse Geist von Hass und Vergeltung, einmal freigelassen, lässt sich nicht wieder in die Flasche sperren. Für jeden ,Terroristen' oder ,Unterstützer', der getötet wird, werden auch Hunderte unschuldiger Menschen getötet. Und die Gefahr ist groß, dass der Tod von hundert Unschuldigen wieder einige Terroristen gebiert«, schreibt Arundhati Roy.
Tausende Freiwillige, so wurde am Wochenende aus Pakistan gemeldet, seien schwer bewaffnet über die Grenze gewechselt, um die Taliban in ihrem »heiligen Kampf« zu unterstützen. Der Krieg in Afghanistan könne sich »als bodenloser Sumpf erweisen«, warnte Pakistans Präsident General Pervez Musharraf, einer der wichtigsten Verbündeten der USA. Die hatten bereits zugeben müssen, dass die Oppositionskräfte im Norden und Süden nicht so rasch vorwärts gekommen sind wie erwartet. Die Taliban behaupten praktisch ihr Gelände, zitierte die »New York Times« einen Pentagon-Beamten. »Es ist eine Art Stillstand eingetreten.«
Tödliche Fracht
Den beobachten die Amerikaner inzwischen selbst auf vorgeschobenen Posten. Seit gut einer Woche sind Militärberater in der afghanischen Stadt Charikar stationiert, 50 Kilometer vor Kabul. Sie sind von der Öffentlichkeit abgeschirmt, aber es ist nicht zu übersehen, wie sie mit ihren Jeeps auf der einzigen Asphaltstraße in der Ebene von Shomali hin- und herfahren, um die US-Angriffe, die nun auch den Frontstellungen der Taliban gelten, mit den Wünschen der Nord-Allianz-Kommandeure zu koordinieren. Wenn die Bomber ihre tödliche Fracht ausklinken, zeigen pilzartige Staubfontänen die Einschläge an. Die Mudschaheddin applaudieren jedem Treffer, doch auch eines ihrer Dörfer wurde versehentlich getroffen. In zwei der armseligen Häuser schlugen Bomben ein. Eine 20-jährige Frau starb, mindestens zehn weitere Personen wurden verletzt - eine
Familie hatte sich gerade auf ein Hochzeitsfest vorbereitet. Die Behausungen sind eng mit den Stellungen verzahnt. Seite an Seite mit 14-jährigen Jungen, die kaum lesen und schreiben können, aber mit der Kalaschnikow aufgewachsen sind, haben sich hier Familienväter verschanzt, die nebenbei ihre kleine Landwirtschaft betreiben.
In fensterlosen Lehmburgen sitzen sich die Kämpfer beider Seiten oft auf Sichtweite gegenüber, das Gelände dazwischen ist vermint, die Mauern der verwahrlosten Gärten bieten Heckenschützen Deckung.
Unwägbares Abenteuer
Vor zwei Monaten hatten die Taliban hier ihrerseits eine massive Offensive gestartet und sind trotz großer Verluste keinen Meter vorangekommen. Wenige Kämpfer, mit Panzerfäusten bewaffnet, sind an dieser Front in der Lage, eine ganze Armee aufzuhalten. Viel mehr an Waffen haben auch die Rebellen nicht. Und bald sind die Nord-Allianz-Truppen in der Ebene von Shomali vom Nachschub abgeschnitten. Schon jetzt machen Schneestürme die Fahrt über den 4300 Meter hohen Anjuman-Pass, die einzige Verbindung in den Norden Afghanistans, zum unwägbaren Abenteuer.
Auch im äußersten Norden sind die Mudschaheddin nicht viel besser gerüstet. Das Nadelöhr für Versorgungslieferungen ist
hier die Seilfähre, die bei Chodja Bahauddin auf dem Grenzfluss Pjantsch zwischen Tadschikistan und Afghanistan pendelt, ein Haufen schwimmendes Altmetall, das einem Kommandeur der Nord-Allianz gehört. Gerade mal zwei Lastwagen passen auf die Plattform. Die Frontlinie in der Region markiert der Fluss Kokcha. 35 Soldaten halten den Hügel von Ai Khanoum, auf dessen Spitze sie einen T-54-Panzer eingegraben haben, der im täglichen Ritual morgens gegen acht und abends gegen 17 Uhr einige der 55-Kilo-Panzergranaten hinüber ins gegnerische Gebiet schießt.
Auf einer weiteren Anhöhe, halb schon in Feindesland, sitzt Feirouz, ein Soldat, der gerade 18 geworden ist und sein kleines Territorium mit zwölf Mann gegen die Taliban verteidigt. Seit anderthalb Jahren hält er zwischen den Frontlinien aus, kommt kaum einmal hinunter ins Dorf. Vier Männer hat er in dieser Zeit gefangen genommen, das ist sein Leben.
Brüchige Allianz
Es sind ehemalige Feinde, Mudschaheddin und Ex-Kommunisten, die sich hier in einer brüchigen Allianz gegen die Taliban vereinigt haben. Aber das ist nicht die einzige Bruchstelle in der Rebellenkoalition. Die usbekischen Feldkommandeure würden sich mit ihren Einheiten am liebsten von den tadschikischen Truppen absetzen, um gemeinsam mit dem Usbeken-General Rashid Dostum zu kämpfen, dessen Männer man in Badachshan abfällig »Teppichdiebe« nennt. Zusammengehalten werden
usbekische und tadschikische Afghanen nur noch durch ihre Abscheu gegenüber den Paschtunen, der größten Volksgruppe im Land, das die Taliban stützt.
General Dostum will Mazar-i-Sharif erobern, den Hauptort nördlich der Hindukusch-Kette. Die Stadt ist strategisch wichtig, von Usbekistan aus gut zu erreichen, auf Wegen, die einst die russischen Besatzer ausgebaut haben, um Nachschub vom Militärflughafen Chanabad heranzuführen. Dort stehen angeblich amerikanische Bodentruppen bereit, die in Afghanistan eingreifen sollen. Stündlich, sagen die Anwohner, könnten sie auf der streng abgeschirmten Airbase große Flugzeuge starten und landen hören.
Die Einnahme von Mazar-i-Sharif stehe kurz bevor, kündigt die Nord-Allianz seit Tagen immer wieder an. Doch auch hier ist sie nicht vorangekommen.
Die Zeit wird knapp
Die Zeit wird knapp. Der Winter naht - und Ramadan. Pakistans Präsident Mu-sharraf hat gemahnt, die Kämpfe dürften im Fastenmonat, der am 17. November beginnt, nicht fortgesetzt werden. »Ich bin dagegen, denn das würde denjenigen einen
Grund liefern, die gegen die Aktionen in Afghanistan sind.» Doch US-Außenminister Powell hält nichts von einer Feuerpause, und Burhanuddin Rabbani, der Chef der Nord-Allianz, hat bereits die Begründung geliefert, mit der seine Truppen weiterkämpfen wollen. «Die Taliban haben traditionell nicht viel Respekt vor religiösen Festen gezeigt. Wenn sie weitermachen, werden wir alles tun, um unser Volk zu verteidigen.» Auch im vergangenen Jahr hatten die Rebellen erst nach Beginn des Fastens richtig losgeschlagen.
Damals nahm die Welt wenig Notiz von dem Krieg. Heute aber droht eine weitere Solidarisierung der Bevölkerung in den islamischen Ländern gegen das, was viele Menschen als »Kreuzzug« der Ungläubigen brandmarken.
Marcus Bensmann, Mario R. Dederichs, Volker Handloik, Peter Meroth