Zu den eher unangenehmen Besonderheiten der britischen Politik gehört, dass sie oft, zu oft von Soundbites getrieben wird, also von Schlagworten und Parolen, dahin geworfen von Politikern, aufgepickt und verbreitet von Medienvertretern. Der Gehalt und Nutzen? Sehr überschaubar und gegen null tendierend.
Am Dienstag, ein möglicher Deal nach zweieinhalb Jahren Verhandlungen mit der EU zeichnete sich just ab, wurde dieses Soundbite-Schauspiel in Westminster wieder einmal formvollendet aufgeführt. Das mehrere hundert Seiten starke Dokument lag in der nahen Downing Street in einem Leseraum aufgebahrt zur Besichtigung für Kabinettsmitglieder. Unterdessen schäumten die Brexit-Hardliner bereits im alten Palast von Westminster. Allen voran der notorische Boris Johnson, einst oberster Brexit-Einpeitscher, dann peinlicher Außenminister und nach seiner Demission schärfster Kritiker von Premierministerin Theresa May. Seinem Ruf wurde der strubblige Boris abermals gerecht mit einer mehrminütigen Tirade. Sprach von Großbritannien als künftigem Vasallenstaat und davon, dass zum ersten Mal "in tausend Jahren, dieses Haus, dieses Parlament keinen Einfluss auf Gesetze mehr haben wird". Er werde jedenfalls gegen den Deal stimmen. Was Wunder.
"Schlechtester Deal der Geschichte"
In diesen Chor stimmten die üblichen Verdächtigen ein, der kauzige Tory Jacob Rees-Mogg, sein nicht minder kauziger Kollege Ian Duncan-Smith, der frühere Brexit-Minister David Davis ("eine Kapitulation“) und die Vertreter der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) sowieso – auf deren Wohl und Stimmen ist May seit der komplett verunglückten Neuwahl im Sommer vergangenen Jahres dummerweise angewiesen. Sie alle nannten das Papier "unakzeptabel". Ein Konservativer faselte noch irgendwas von Hölle, und der frühere UKIP-Boss und hauptberufliche Anti-Europäer Nigel Farage twitterte wenig überraschend: "Schlechtester Deal der Geschichte". Die Wut unter den Brexit-Anhängern schaukelte sich derart hoch, dass das Wort von einem Misstrauensvotum der eigenen Partei die Runde machte. So viel zur Gemengelage.
Nur, gesehen – geschweige denn gelesen – hatte es von diesen Herrschaften niemand. Das war zunächst den Kabinettsmitgliedern vorbehalten, die am Abend der Reihe nach in der Downing Street vorfuhren, von der Chefin persönlich gebrieft wurden und dann die Gelegenheit bekamen, durch den massiven Entwurf zu blättern, um sich ein Bild zu machen und sich zu präparieren für den Mittwoch – "Judgement Day", Tag des Jüngsten Gerichts, wie die "Daily Mail" martialisch titelte.
Welcher mit einer lebhaften Debatte im Unterhaus begann, wo sich May den Fragen des Oppositionsführers Jeremy Corbyn und der Abgeordneten stellte. Unterbrochen immer wieder vom Raunen und Blöken aus beiden Fraktionen. Und lediglich ein Vorgeschmack auf das, was in den kommenden Wochen folgen wird. Sie überstand das irgendwie.
Am frühen Nachmittag um zwei versammelte May ihr tief gespaltenes Kabinett in der Downing Street, kämpfte um Rückhalt für den fragilen Deal – und auch um ihr politisches Überleben. Es wurde eine monströs lange Sitzung. Nach mehr als fünf Stunden trat sie aus der Tür von 10 Downing Street und verkündete, dass das Kabinett den Entwurf "kollektiv unterstützt habe". Sie sah müde aus und erleichtert.
Brexit-Knackpunkt bleibt die Irland-Frage
Man muss wissen: Bei dem Deal handelt es sich um ein kompliziertes Konstrukt, das die technischen Voraussetzungen für den britischen EU-Abschied regelt und dessen Wortwahl bis in die Spitzfindigkeiten austariert werden musste. Knackpunkt ist und bleibt die Frage der irischen Grenze, und offenbar gelang den Unterhändlern beider Seiten ein Kompromiss, der eine harte Grenze zwischen Norden und Süden einerseits verhindert, die Briten aber andererseits und sehr zum Groll der Hardliner zumindest übergangsweise zum Verbleib in der Zollunion nötigt und auch dazu, EU-Regularien auch weiterhin zu respektieren.
Es war dies offenbar das Maximum an Konsens für EU und Britannien, ohne jeweils das Gesicht zu verlieren – und exakt das erklärte May erst am Dienstagabend und schließlich am Mittwoch während der mehrstündigen Kabinettssitzung ihren Leuten. Während draußen die Wetten liefen, wer von denen rebellieren und zurücktreten würde. Es hätte fraglos schlimmer kommen können.
Nicht ausgeschlossen aber, dass es in der Tat noch schlimmer kommt. Der Deal muss nun in Brüssel die Zustimmung der übrigen EU-Mitgliedsstaaten erhalten, ehe Ende des Monats ein Sondergipfel anberaumt werden kann. Das ist vergleichsweise unproblematisch. Vor May dagegen liegt nunmehr die Herkules-Aufgabe, den Entwurf durch das hoffnungslos zerstrittene Parlament zu pauken.
Es ist – milde formuliert – unübersichtlich
Die Abgeordneten der erzkonservativen nordirischen DUP werden aller Voraussicht gegen das Papier stimmen, obwohl sie sich damit gegen den Willen der mehrheitlich pro-europäischen Bevölkerung in Nordirland stellen. Die harten Brexiteers um Boris Johnson und Rees-Mogg werden munter zur Rebellion aufrufen, womöglich wirklich ein Misstrauensvotum gegen May auf den Weg bringen und selbstverständlich auch gegen den Deal stimmen. Labour verfolgt seinen ganz eigenen Kurs. Deren Boss Jeremy Corbyn, das ist kein Geheimnis, wären Neuwahlen am liebsten, mutmaßlich sein Ticket in die Downing Street. Er lärmte am Mittwoch im Unterhaus und warf der Regierung "chaotisches Schlamassel" vor. Die Schotten von der Scottish National Party (SNP) wiederum wollen dem Vernehmen nach den Deal auch abschmettern, wenn sie nicht wenigstens die gleichen Sonderrechte wie die Nordiren bekommen – was nicht passieren wird. Alle köcheln mithin an ihrem eigenen Süppchen aus Partei-Interessen. Es ist in einem Wort und milde formuliert: unübersichtlich.
May braucht 320 Stimmen im Unterhaus, die sie nicht hat und deshalb dringend auf Überläufer angewiesen ist. Sie will die Einigung unbedingt vor Weihnachten in trockenen Tüchern haben. Es wird, so viel steht mal fest, eine ungemütliche Adventszeit.
Der Kompromiss mit der EU und die Rückendeckung durch ihr Kabinett waren ein Sieg für May, den ihr viele schon gar nicht mehr zugetraut hatten. Es war allerdings nicht mehr als ein Etappensieg auf dem Weg zum großen Finale.