Bundeswehr in Afghanistan Aufbauhilfe? Nein, Krieg!

Nur knapp entging der junge Taxifahrer dem Tod. Eine Frau und zwei Kinder starben in seinem Auto, als deutsche Soldaten an einer Straßensperre das Feuer eröffneten. In Afghanistan leistet die Bundeswehr längst nicht mehr nur Aufbauhilfe. Sie befindet sich im Krieg.

Er hat das harte Bellen eines Maschinengewehrs gehört, dann heißes Metall an der Schulter und der linken Hand gespürt, erinnert sich der Taxifahrer Ismail, 22. Mit letzter Kraft hat er das Auto noch in eine Einfahrt steuern können. Als er sich umdrehte, sah er ein Blutbad: Die Frau, die er eben noch von einer nahen Hochzeitsfeier nach Hause fuhr, war tot, ebenso zwei ihrer Kinder. Glassplitter, Blut, Hirn lagen überall im Auto, dass er selbst zwei Finger verloren hat, merkte er erst hinterher. "Wer das gesehen hat", wird er drei Tage später in seinem Haus im Dorf Amschi zornbebend sagen, "der kann nur noch an eines denken: Rache!"

Die Schüsse aus dem Maschinengewehr MG3 der Bundeswehr, Kaliber 7,62 Millimeter, die am vergangenen Donnerstag um kurz vor zehn Uhr abends die Schwester des Bräutigams und zwei ihrer Kinder töteten, stehen am Ende einer wochenlangen Kette von Ereignissen. Höhepunkt einer Eskalation, in der die Taliban einen Hauptfeldwebel töteten und mehrere Männer schwer verletzten. In der die Bundeswehr in einen Krieg gezwungen wird, den sie nicht führen will. Bis am Ende ein Soldat nicht die Reifen, sondern die Insassen eines davonfahrenden Fahrzeugs traf. Es ist eine mörderische Falle der Taliban, der sich keine Truppe entziehen kann. Sie greifen so lange an, bis die Soldaten immer schneller zurückschießen - und irgendwann die Falschen treffen.

Lange Zeit ist es in den drei Nordprovinzen ruhig geblieben, nur zwei Prozent aller Anschläge auf die internationalen Truppen finden im Stationierungsgebiet der Deutschen statt. Die Bundeswehreinheiten in Afghanistan haben sich seit 2002 stets als Ordnungstruppe verstanden, nicht als Besatzer, die Krieg führen. Nach der Vertreibung der Taliban durch die Amerikaner und die Truppen der sogenannten Nord-Allianz in der Folge von Nine-Eleven gehörten sie zum Kontingent internationaler Truppen, die den Wiederaufbau des zerstörten Landes fördern und sichern sollten. Die Deutschen wurden vor sechs Jahren mit offenen Armen empfangen, als sie sich daran machten, Brücken zu bauen und die Versorgung von Kranken zu verbessern.

Die US-Piloten töteten immer wieder Zivilisten

Schwierig wurde der Einsatz der internationalen Schutztruppe (Isaf) dadurch, dass die Amerikaner mehr daran interessiert waren, Taliban und Al-Qaida-Mitglieder zu jagen, als den Wiederaufbau in der ihnen zugewiesenen Region zu fördern. Mit ihren Angriffen aus der Luft brachten sie die gesamte Bevölkerung gegen sich auf, weil US-Piloten dabei immer wieder Zivilisten töteten. Das nutzten die Taliban, um sich im Schutz der wütenden Bevölkerung vor allem im Süden des Landes wieder festzusetzen und die fremden Truppen zu attackieren.

Schon bald forderten Militärs und Politiker aus den USA, Kanada und Großbritannien angesichts steigender Verluste, auch die Deutschen sollten sich stärker engagieren. Davor zucken die Politiker in Berlin bis heute zurück. Denn sie scheuen sich aus Furcht vor dem Wähler, offen über die wahren Risiken zu sprechen. Als der internationale Druck immer stärker wurde, erklärte sich die Bundesregierung schließlich im vergangenen Jahr bereit, Tornados in Masar-i-Scharif zu stationieren, um ausländische Truppen mit Aufklärungsflügen zu unterstützen. Und Verteidigungsminister Franz Josef Jung schickt demnächst weitere 1000 Mann zur Verstärkung an den Hindukusch. Denn seit diesem Sommer hat sich die Lage verändert:

Fast täglich kommen konkrete Anschlagswarnungen. Am 6. August sprengte sich ein Selbstmordattentäter südlich von Kundus, als Bundeswehrsoldaten ihr liegen gebliebenes Fahrzeug reparieren wollten. Drei Männer wurden schwer verletzt. Am Mittwoch vergangener Woche starb der Hauptfeldwebel Michael M. auf Patrouillenfahrt, als ein Attentäter per Draht seinen Sprengsatz zündete.

Seit Jahren arbeiten in Kundus, dem am meisten gefährdeten deutschen Militärstützpunkt, deutsche Nachrichtendienstler und ihre Kollegen vom afghanischen Geheimdienst NDS eng zusammen. Doch selten sind deren Hinweise so konkret gewesen wie jener vom vergangenen Donnerstag.

Immer mehr Richtung Brennpunkt

Ein "Sarradscha", ein Toyota Corolla Kombi, eines der gängigsten Fahrzeuge in Afghanistan, sei von Südosten unterwegs nach Kundus; voll mit Taliban und Waffen. "Für den Abend haben die Deutschen uns dringend aufgefordert, einen gemeinsamen Checkpoint in Khanabad einzurichten", erinnert sich Major Abd al-Rahman Aqtasch, der Vizepolizeichef von Kundus: "Warum genau, haben sie uns nicht gesagt." Gegen 21 Uhr beziehen mehrere Dutzend afghanische Soldaten und Polizisten sowie etwa 30 Bundeswehrsoldaten Stellung an der Überlandstraße. Vorerst bleibt alles ruhig: Autos halten an, die Fahrer lassen sich kontrollieren. Bis gegen 21.50 Uhr ein Sarradscha von einem Feldweg auf die Hauptstraße biegt und kurz vor der Straßensperre bremst. Wendet. Davonrast.

Direkt hinter ihm fährt Ismail, auch in einem Toyota Corolla, und begeht den Fehler seines Lebens: Er wendet ebenfalls. "Ich kenne das so. Wenn die ausländischen Truppen an ihrem Checkpoint die Scheinwerfer aufblenden, soll man sich fernhalten", sagt er, "und als ich die ersten Schüsse hörte, bin ich nur noch schneller gefahren." Es ist ein unübersichtliches Terrain voller Häuser, Lehmwälle, Bäume. In jenen wenigen Sekunden, als alles passiert, bewegt sich Ismails Toyota genau zwischen dem entkommenden Wagen und den deutschen Soldaten. Die erst in die Luft schießen, dann, von einem etwa 100 Meter entfernten, gepanzerten Dingo, mit dem Maschinengewehr feuern. Nicht auf die Reifen, sondern auf die Insassen. Außerdem aufs falsche Auto. Der Wagen, dem die ganze Operation galt, entkommt in der Dunkelheit und der Deckung von Ismails Taxi.

So schildern es zumindest übereinstimmend die afghanische Polizei, Ismail selbst und Gul Mohammed, ein Bauer, dessen Farm neben dem Checkpoint liegt: "Ich kann mir keine Mauer um mein Feld leisten, so konnte ich sehen, was geschah. Als die Deutschen anfingen zu schießen, habe ich mich geduckt. Ich hatte Angst, dass die auch noch auf mich schießen würden, habe dann das MG-Feuer gehört und auch die Schreie von Kindern. Es war furchtbar. Und dann habe ich gesehen, wie die Deutschen um den zerschossenen Wagen herumstanden. Einer von ihnen brach in Tränen aus."

Es wäre wohl nie so weit gekommen, hätte es nicht die Eskalation der vergangenen Wochen gegeben. Nicht die Deutschen haben plötzlich den Krieg erklärt. Er kommt zu ihnen, aus unterschiedlichsten Gründen: Afghanen aller politischen Lager und Ethnien inklusive Präsident Hamid Karzai sind verbittert darüber, dass die US-Streitkräfte im Land offensichtlich weiterhin ihren ganz eigenen Krieg führen und alle paar Wochen Zivilisten bombardieren; im Juli eine Hochzeitsgesellschaft in Ostafghanistan, am 21. August eine Gedenkfeier in Westafghanistan, jedes Mal gab es Dutzende von Toten. Von denen das US-Militär behauptet, es habe sich meistens um Taliban gehandelt. Bis überlebende Zeugen eine gänzlich andere Version offenbaren: dass es friedliche Zusammenkünfte Unbewaffneter waren. Dass Beteiligte einer der zahllosen innerafghanischen Fehden die Opfer beim US-Militär angeschwärzt hätten. Ein Muster, das sich seit 2001 vielfach wiederholt hat. Es überrascht nicht, dass Taliban Unwahrheiten verbreiten und ihre Angriffe oft aus dem Schutz der Zivilbevölkerung unternehmen. Aber auch das US-Militär versucht immer wieder, irrtümliche Bombardements zu vertuschen.

Verständigungsprobleme

Während diese Angriffe die allgemeine Feindseligkeit verstärken, trifft eine andere Bedrohung die Deutschen direkt: Seit im Nachbarland Pakistan die schlingernde Regierung dort de facto ein Waffenstillstandsabkommen mit den Taliban geschlossen hat, strömen mehr Kämpfer denn je über die Grenze nach Afghanistan: "Es kommen Paschtunen aus dem Grenzgebiet, aber auch Usbeken, Araber, sogar Punjabis aus Ostpakistan", beschreibt ein deutscher Nachrichtendienstler in Afghanistan die Lage. "Die brauchen erst mal Dolmetscher, um sich mit den afghanischen Taliban überhaupt unterhalten zu können." Burhan Younus, ein afghanischer Journalist mit guten Taliban-Kontakten, bestätigt den Zustrom: "Irak ist out. Auf den Dschihad-Websites heißt das neue Ziel: Afghanistan." Und damit kommen auch immer mehr Selbstmordattentäter in den einst ruhigen Norden. Darunter selbst Kinder und Jugendliche, Anfang August ein 15-Jähriger namens Zikirullah, der sich afghanischen Polizisten ergab und erzählte, von Taliban aus Pakistan instruiert worden zu sein.

Dass die Taliban im Norden bislang keinen wirklichen Rückhalt hatten, löst sich langsam auf in der Wut über die ausländischen Streitkräfte. Zumal die Bundeswehr sich bei der Aufklärung der tödlichen Schüsse vom Donnerstag bislang zurückhaltend gezeigt hat. Während noch am Montag auf ihrer Website die dürre Nachricht stand, Spuren am Tatort würden "die Vermutung nahelegen, dass die Schüsse auf das Fahrzeug aus deutschen Waffen abgegeben wurden", wussten es die örtlichen Vertreter in Kundus schon am Freitagmorgen erheblich genauer. Zu dem Zeitpunkt, erinnert sich Ismail, der verwundete Fahrer, sei eine Abordnung der Bundeswehr zu ihm ins Krankenhaus gekommen: "Die haben auf mich eingeredet, ich möge aussagen, dass die Afghanen geschossen hätten. Dann kamen Leute von der Polizei und beschworen mich, ich solle nicht lügen. Dann kamen noch mal die Deutschen. Bis ich nur noch aus diesem Krankenhaus wegwollte und mir die Polizisten geholfen haben, dass ich gehen durfte." Die Bundeswehr will sich zu den laufenden Ermittlungen nicht äußern. Tatsächlich wurde Ismail bereits am Samstag trotz seiner Verletzungen entlassen und zurück in sein Dorf gebracht, wo das stern-Team ihn traf.

"Nicht anders als die Amerikaner"

Am vergangenen Wochenende hat sich die Trauergemeinde zu Ehren der erschossenen Mutter und ihrer Kinder in Khanabad versammelt. "Was ist das für ein Leben, wenn wir nicht einmal mehr zu einer Hochzeit gehen können", sagt wütend ihr Bruder Akbar, der Bräutigam jener so tragisch geendeten Feier: "Früher dachte ich, die Deutschen wollten Terroristen bekämpfen. Aber jetzt glaube ich, dass sie eher neue Aufständische schaffen. Die sind auch nicht anders als die Amerikaner!" Muhammad Amin, 70, Großvater der Braut, nickt: "Wir wollten eine schöne Feier haben. Aber die Ausländer haben daraus einen Albtraum gemacht. Wollen sie uns alle töten?" Beifälliges Murmeln, einer sagt leise: "Wenn die damit nicht aufhören, werden wir uns den Taliban anschließen!"

Am Sonntagvormittag hat es den nächsten Sprengstoffanschlag auf eine Bundeswehrpatrouille gegeben, nicht weit von Khanabad entfernt, auf der Straße von Kundus nach Osten. Verletzt wurde niemand, "aber die Angst", sagt ein Soldat, "die Angst fährt jetzt immer mit".

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Mitarbeit: Yaqub Ibrahimi