Donald Trump macht keinen Hehl daraus, dass eine Wahlniederlage am 3. November für ihn nicht zwangsläufig bedeuten würde, dass er auch das Weiße Haus räumt. "Das muss ich dann sehen", antwortete der US-Präsident im Juli Fox-News-Moderator Chris Wallace auf die Frage, ob er das Wahlergebnis akzeptieren werde. "Das muss ich sehen. Nein, ich werde nicht einfach ja sagen. Ich werde nicht nein sagen."
Seit Monaten schon versucht Trump, Zweifel an den Präsidentschaftswahlen zu schüren. Immer wieder behauptet er, eine verstärkte Briefwahl in der Coronakrise würde Schummeleien Tür und Tor öffnen, obwohl Betrugsfälle Experten zufolge äußerst selten sind. "2020 wird die fehlerhafteste und betrügerischste Wahl der Geschichte", prognostizierte der Republikaner auf Twitter. Ende Mai markierte der Kurzbotschaftendienst erstmals einen Tweet des Präsidenten zu diesem Thema als irreführend.
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Trumps Verhalten wirft eine Frage auf, von der man kaum glauben mag, dass sie in der am längsten bestehenden Demokratie der Welt tatsächlich gestellt werden muss: Was passiert, wenn der Mann im Weißen Haus sich wirklich weigert, sein Amt aufzugeben?
Donald Trump hat sehr viel Macht, um die Wahl anzufechten
Die auf Datenjournalismus und Statistiken spezialisierte US-Nachrichtenwebseite "FiveThirtyEight" hat sich dieser Frage in einer ausführlichen Analyse angenommen und festgestellt, dass der US-Präsident viel Macht zu seiner Verfügung hat, um die Wahl anzufechten. Und einige der Szenarien, die das Land "an den Rand einer Krise bringen könnten", seien sogar "sehr plausibel".
Eines dieser möglichen Szenarien sieht demnach so aus: Es ist spät am Wahltag und in den wichtigsten "Battleground States", den am härtesten umkämpften Bundesstaaten, müssen noch immer Hunderttausende von Stimmen gezählt werden, weil wegen der Pandemie vermehrt per Briefwahl abgestimmt wurde. Infolgedessen haben es die Medien weitgehend vermieden, einen Sieger auszurufen. Auf der Grundlage der bereits ausgezählten Stimmen führt Trump aber in genügend Staaten, um mindestens 270 Wahlmännerstimmen zu erreichen, was ausreichen würde, um die Wahl zu gewinnen, sollte sein Vorsprung in der Nacht anhalten. Trump beansprucht den Sieg daraufhin für sich. Da aber deutlich mehr Demokraten als Republikaner per Brief wählen und folglich auch die noch nicht ausgezählten Stimmen mehrheitlich von Demokraten stammen, zieht Herausforderer Joe Biden schließlich an Trump vorbei - ein Phänomen, das – wegen der Farbe der Demokraten – als "Blue Shift", als "blaue Verschiebung" bekannt ist.
Das Beispiel ist nur eine der vielen möglichen Entwicklungen, die das Transition Integrity Project, eine parteiübergreifende Vereinigung von mehr als 100 Experten, skizziert hat, als es im Sommer untersuchte, wie sich eine mögliche Wahlkrise entfalten könnte. Ein wichtiges Ergebnis der Simulationen des Projektes sei die Erkenntnis gewesen, wie viel Macht Trump habe, sollte er die Wahl anfechten wollen, schreibt "FiveThirtyEight"-Autor Geoffrey Skelley. "Es gibt einen enormen Unterschied zwischen dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, der geradezu unglaubliche Zwangsgewalt zu seiner Verfügung hat, und einem Herausforderer, der in unserem System wirklich keinerlei Macht hat", zitiert Skelley Rosa Brooks, Professorin an der juristischen Fakultät der Georgetown Universität, die das Transition Integrity Project mitbegründet hat. "Joe Biden kann eine Pressekonferenz einberufen, Donald Trump könnte die 82. Luftlandedivision rufen."
Patt im US-Kongress könnte zum Problem werden
Edward Foley, Rechtsprofessor an der Ohio State Universität und ehemaliger Generalstaatsanwalt des Bundesstaates, beschreibt gegenüber "FiveThirtyEight" ein weiteres mögliches Szenario:
Trump liegt in der Wahlnacht im entscheidenden Bundesstaat Pennsylvania vorn, aber wegen der demokratischen Gewinne bei den Stimmzetteln, die in den folgenden Tagen erst ausgezählt werden, zieht Biden um ein paar tausend Stimmen an ihm vorbei. Was als nächstes geschieht, entwickelt sich schnell zu einem Parteienstreit. Der demokratische Gouverneur Tom Wolf unterzeichnet Pennsylvanias "Certificate of Ascertainment" - eine Bescheinigung über den Wahlausgang, die jeder Bundesstaat ausstellen muss – und bestätigt Bidens Sieg, indem er die Wahlmänner und -Frauen der Demokraten als diejenigen auflistet, die Pennsylvania ins Electotral College entsendet, das am 14. Dezember über den künftigen Präsidenten abstimmt.

Zugleich ernennt die von den Republikanern kontrollierte Legislative von Pennsylvania auf Trumps Geheiß eine andere Gruppe von Wahlmännern und -Frauen, weil der US-Präsident behauptet, es habe einen umfassenden Wahlbetrug gegeben.
Sollte es dazu kommen, würde dies wahrscheinlich unmittelbare rechtliche Anfechtungen vor Staats- und Bundesgerichten nach sich ziehen, vielleicht gefolgt von einer Intervention des Obersten Gerichtshofs der USA. Aber selbst wenn ein Gericht eine der Elektorengruppen für unrechtmäßig erklären würde, hätte der aus Senat und Repräsentantenhaus bestehende US-Kongress immer noch die Befugnis, beide Gruppen zu berücksichtigen, solange ihm das entsprechende "Certificate of Ascertainment" vorliegt. Falls die Republikaner bei der Wahl ihre Vormachtstellung im Senat verteidigen können und die Demokraten die Mehrheit im Repräsentantenhaus behalten, dürften sich die beiden Kammern dabei aber kaum auf ein gemeinsames Vorgehen einigen können.
In Foleys Szenario folgt Vizepräsident Mike Pence, der als Präsident des Senats die Auszählung im Kongress beaufsichtigen würde, einer möglichen Auslegung der Wahlgesetze und lässt keine der beiden Elektorengruppen zählen, weil sie miteinander in Konflikt stehen. Dadurch werden die Stimmen Pennsylvanias von der Gesamtzahl der 538 Wahlmänner und -Frauen abgezogen und Trump erhält eine Mehrheit auf der Grundlage der verbleibenden 518 Elektorenstimmen. Die Demokraten halten daraufhin dagegen und behaupten, dass das Zertifikat mit dem Siegel des Gouverneurs, das Biden zum Sieger macht, vom Gesetz bevorzugt wird.
Da kein Kompromiss zustande kommt, befinden sich die USA mitten in einer ausgewachsenen Verfassungskrise. In diesem Szenario könnte der Oberste Gerichtshof eingeschaltet werden, wenn die Demokraten beispielsweise eine einstweilige Verfügung beantragen, um Pence daran zu hindern, die Stimmen von Pennsylvania wegfallen zu lassen. Es wäre aber auch möglich, dass das Gericht eine Entscheidung über den Auszählungsstreit ablehnt, weil weder die Verfassung noch die Wahlgesetze der Justiz in diesem Prozess eine Rolle zuweisen, glaubt Foley.
Sogar Nancy Pelosi könnte Präsidentin werden
Klar ist auf jeden Fall, dass am am 20. Januar 2021 irgendjemand das Amt als US-Präsident antreten muss. Das bestimmt der 20. Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung. Der Zusatzartikel legt aber nicht fest, wie vorgegangen werden soll, wenn es Streit darüber gibt, wer sich für das Amt qualifiziert hat. "Was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass die laufende Amtszeit endet", zitiert "FiveThirtyEight" Professor Foley. Das bedeute aber nicht, dass es einfach sei, den nächsten Amtsinhaber zu bestimmen, wenn es eine Meinungsverschiedenheit darüber gibt.
Tatsächlich könnte sogar die Sprecherin des Repräsentantenhauses, die Demokratin Nancy Pelosi, unter Berufung auf das Gesetz zur Präsidentennachfolge von 1947 behaupten, sie sei die nächste in der Reihe, um das Amt zu übernehmen, ihren Sitz im Repräsentantenhaus räumen, und als Präsidentin dienen, bis Biden zum Wahlsieger erklärt werde, schreibt Skelley in seiner Analyse. Sollten die Republikaner aber behaupten, Trump habe die Wahl gewonnen, würden sie sicherlich Einwände gegen Pelosis Vereidigung haben. Angesichts einer Krise dieses Ausmaßes sei kaum vorhersehbar, was dann genau geschehen würde, aber sehr wahrscheinlich würden die Dinge außer Kontrolle geraten, befürchtet der Autor. Und die daraus resultierende Unsicherheit könnte Unruhen und Proteste auslösen, die leicht zu Gewalt führen könnten.

Angesichts der enormen Bedeutung die dieser Wahl von allen Seiten beigemessen wird, halten es die Experten des Transition Integrity Project nicht für ausgeschlossen, dass auch Joe Biden das Ergebnis anfechten könnte – etwa, wenn Trump wie schon 2016 im Rennen gegen Hillary Clinton eine Mehrheit der Elektrorenstimmen erhält, bei den Wählerstimmen landesweit aber klar hinter seinem Herausforderer liegt. Anders als Trump hat Biden allerdings nie irgendwelche Andeutungen in diese Richtung gemacht.
Die vom Transition Integrity Project und von Edward Foley dargelegten Szenarien sollten nicht als zwangsläufige Folgen der Wahl am 3. November betrachtet werden, resümiert Skelley. Sie machten aber deutlich, dass der "klapprige Apparat", der den Wahlprozess in den USA steuere, zusammenbrechen könne, wenn wichtige Akteure dagegen vorgingen. "Aber selbst wenn die schlimmsten Szenarien nicht eintreten sollten, ist die Tatsache, dass uns ein neutraler Wahlschiedsrichter fehlt, sicherlich eine tickende Zeitbombe für unsere Demokratie."
Quellen: "FiveThirtyEight", Transition Integrity Project, Fox News, US Election Atlas