Die Erleichterung in Kiew war groß, die Erwartungen waren größer. Konkrete Zusagen für die Lieferung schwerer Waffen blieben – wie erwartet – aus. Dennoch dürfte man in der Ukraine nach dem Besuch der Reisegruppe EU-Machelite, bestehend aus Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Italiens Ministerpräsident Mario Draghi und Bundeskanzler Olaf Scholz, ein Stück weit aufgeatmet haben. Die Botschaft: Die Ukraine soll den Kandidaten-Status erhalten.
Regierungschef Wolodymyr Selenskyj sprach von einem "historischen Tag". Noch nie sei die Ukraine so dicht an die Union herangerückt. Dass sich die drei einflussreichsten EU-Staaten für einen Beitritt der Ukraine ausgesprochen haben, ist die wohl klarste Solidaritätsbekundung seit Langem.
Nun ist der Kandidatenstatus, insofern er beim EU-Gipfeltreffen kommende Woche tatsächlich gewährt wird, nur der erste Schritt auf einem langen, wahrscheinlich äußerst steinigen Weg. Es ist wie bei der Einladung zu einem Bewerbungsgespräch: Das gegenseitige Interesse ist zwar da, die Vertragsunterschrift aber noch lange nicht in Sicht.
Die Frage ist nun: Hätte der Kandidatenstatus eine spürbare oder rein symbolische Wirkung?
Der Weg in die EU: Die Ukraine steht am Anfang vom Anfang
Grundsätzlich kann jedes europäische Land einen Antrag auf Mitgliedschaft stellen, "wenn es die demokratischen Werte der EU achtet und sich für deren Förderung einsetzt." Die Ukraine steht jedoch am Anfang vom Anfang. Zunächst muss sie sich für die Bewerbung als solche qualifizieren – trotz der Fürsprache von Scholz und Macron. Denn ohne einen offiziellen Kandidatenstatus geht gar nichts. Für einen Beitritt muss sie die als "Kopenhagener Kriterien" bekannten Voraussetzungen erfüllen, worunter Punkte wie "stabile Institutionen als Garantie für demokratische Ordnung", die "Wahrung von Menschenrechten und Minderheiten" oder die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft fallen.
Ein Kandidatenstatus bedeutet aber nicht nur einen sicheren Platz im Wartezimmer. Mit der sogenannten "Heranführungshilfe" haben potentielle Mitglieder Anspruch auf finanzielle Unterstützung aus dem EU-Haushalt, dessen Gelder den Kandidaten den Weg eben sollen. Das Programm versteht die Staatengemeinschaft als "eine Investition in die Zukunft" und soll "politische, institutionelle, soziale und wirtschaftliche Reformen" anstoßen.
Sind diese ersten Hürden genommen, können die formellen Beitrittsverhandlungen beginnen. Die ziehen sich aber über Jahre – wovon nicht zuletzt die Türkei ein Lied singen kann. Der Kandidatenstatus sagt also nicht zwangsläufig etwas über die Chancen eines Anwärters aus, am Ende tatsächlich ein vollwertiges EU-Mitglied zu werden. Was die Sache zusätzlich verkompliziert: Jeder Beitrittsphase müssen alle 27 EU-Mitglieder zustimmen. Ein kleiner Hoffnungsschimmer: Immerhin kann sich der türkische Präsident Erdogan dieses Mal nicht querstellen. Wobei – die Rolle des Miesepeters könnte Ungarns Regierungschef Viktor Orban sicherlich übernehmen.
Kanzler im Kriegsgebiet: Scholz besucht mit Macron und Draghi die Ukraine

Kandidatenstatus: ein Titel mit Leuchtkraft
Ja, mit dem Kandidatenstatus erhält die Ukraine mit der Heranführungshilfe konkrete finanzielle Hilfe, dennoch läge die eigentliche Macht in der Symbolik. Es wäre ein Symbol mit immenser Strahlkraft – und mit echten Folgen. Zwar hat die Ukraine Stand jetzt wohl kaum eine Chance, in die oft uneinige Vereinigung aufgenommen zu werden (die Gründe lesen Sie hier). Doch die Empfehlung der EU-Kommission erhöht den Druck auf die Staats- und Regierungschefs vor dem Gipfeltreffen kommende Woche. Indem Scholz, der sich in den vergangenen Monaten das Prädikat "besonders zögerlich" redlich verdient hat, so klar für die Aufnahme der Ukraine ausgesprochen hat, setzt er seinen Amtskollegen indirekt die Pistole an die Brust. Wenn Olaf, der Zauderer schon eifrig nickt, gehen ähnlich unentschlossenen Mitgliedern wie den Niederlanden die Ausreden aus. Insofern dürfte der Gipfeltreffen zum Showdown werden und Europa dazu bewegen, die Taktik des Abwartens abzustreifen und sich (endlich) klipp und klar hinter die Ukraine und stellen – und damit gegen Russland.
Wie "ABC News" berichtet, merkte Italiens Ministerpräsident Mario Draghi in Kiew an, dass die Ukraine im Fall eines Kandidatenstatus die EU-Anwärter aus dem Balkan (Albanien, Nordmazedonien, Serbien und Montenegro) im Prozess überholen könnte. Das wiederum stellt die EU vor eine Gratwanderung. Zum einen ist die Lage in der Ukraine natürlich "außergewöhnlich", weshalb Brüssel Kiew die Tür aufhalten möchte. Zum anderen würde man die anderen Kandidaten, die seit Jahrzehnten im Wartezimmer sitzen, mit einem beschleunigten Aufnahmeverfahren für die Ukraine brüskieren.

"Eine psychologische Waffe"
Der Ukraine den Beitrittsstatus zu verleihen, wäre auch ein Versprechen an die Zukunft, das da lautet: Wir glauben an euren Sieg! Schließlich wäre ein von Putin besetzter Staat für Europa verloren. Die Statusvergabe würde dem pro-europäischen Kurs der Ukraine in den vergangenen Jahren nicht nur Anerkennung zollen. Die Mitglieder würden sich – wenn auch zunächst symbolisch – dem Wiederaufbau des Landes nach Kriegsende verschreiben. Nicht nur das. Als Mitglied der Union könnte die Ukraine ihren langjährigen Schwebezustand als Pufferzone zwischen Russland und der EU hinter sich lassen.
"Es ist eine psychologische Waffe, um zu zeigen, dass die Ukraine eine Zukunft hat", sagt Oleksiy Honcharenko, Mitglied des ukrainischen Parlaments laut "New York Times" in einem Interview. Die Ukraine sei das einzige Volk auf dem Kontinent, dass für europäische Werte stirbt. "Europa würde sich selbst verraten, wenn es diese Entscheidung nicht treffen würde", so der Politiker weiter. Ein wunder Punkt. Denn eine Absage "wäre ein gefährliches und ermutigendes Signal an den russischen Präsidenten, der seit Jahren behauptet, der Westen sei den Ländern der Region nicht wirklich verpflichtet", schrieb die Brüsseler Onlinezeitung "EU-Observer" bereits im März.
Und der Kreml? Der kocht sicherlich vor Wut – auch wenn man sich in Moskau bemüht, das Gegenteil zu beweisen. "Europäische Fans von Fröschen, Leberwurst und Spaghetti besuchen gerne Kiew. Mit null Einsatz", twitterte der russische Ex-Präsident Dmitri Medwedew am Donnerstag. Das ermüdende Herumgefuchtel mit Stereotypen einmal beiseite genommen, zeigen solche Reaktionen die verzweifelte Machtlosigkeit, die in Putins Hofstaat um sich greift. Im Kreml bekommt man es offenbar mit der Angst zu tun.
So bleibt nur abzuwarten, ob Europa die Macht der Symbolik versteht. Für die Ukraine wäre es zu hoffen.
Quellen: Europäische Kommission; "ABC News"; "EU-Observer"; dpa