Vier Wochen ist es her, dass Amit Man, eine junge Sanitäterin im Kibbuz Be'eri von Terroristen drei Mal angeschossen wurde. Erst ins Bein, dann in den Bauch und zuletzt in den Kopf. Sie starb noch am selben Tag. Heute sagt ihre Schwester Haviva, die Tage und Wochen seit Amits Tod, seit dem unheilvollen 7. Oktober in Israel, würden in ihrem Kopf verschwimmen.
Vor einer Woche hat ihre Schwester Ruth einen Jungen zur Welt gebracht. Statt Amit fuhr Haviva ins Krankenhaus nach Netanya, 48 Stunden dauerte die Geburt. Die beiden Frauen zündeten Kerzen an und schauten sich gemeinsam Fotos von Amit an. In solchen Momenten sickert die Realität besonders gnadenlos ins Bewusstsein der Hinterbliebenen: Amit ist nicht mehr da.
Wie für viele Freunde und Familien der Opfer des 7. Oktober endet auch für die Verwandten von Amit heute gemäß der jüdischen Tradition die vierwöchige Trauerzeit. Alle zusammen werden sie zum Grab gehen, am Abend wird es eine Gedenkfeier geben. Einen Monat ist es her, dass Terroristen der Hamas und des Islamischen Jihad aus Gaza in den Süden Israels einfallen konnten, Soldaten niederschossen und Zivilisten in ihren Häusern brutal ermordeten. In Gaza tobt nun ein Krieg, der Nahe Osten ist wieder zum Brennpunkt geworden, auf den die ganze Welt schaut.
Wenn Haviva ihre Mutter im Süden des Landes in der Stadt Netivot besucht, hört sie die Explosionen in Gaza. Sie weiß, dass dort auch Unschuldige, Frauen und Kinder, den Preis für das Massaker zahlen. "Aber wenn ich die Wahl habe zwischen unserer Menschlichkeit und unserem Überleben, dann wähle ich unser Überleben", sagt sie.
Im Gazastreifen sind in den vergangenen vier Wochen nach Angaben des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums, der einzigen Institution, die noch Zahlen sammelt, mehr als 10.000 Menschen umgekommen. Die Chefs mehrerer UN-Agenturen und humanitärer Organisationen haben gestern wie zuvor verschiedene arabische Länder dringend zu einem Waffenstillstand aufgerufen. Laut den Vereinten Nationen stirbt alle zehn Minuten ein Kind.

Für Menschen wie die Palästinenserin Fatima, die aus dem israelisch besetzten Westjordanland verfolgt, was im Gazastreifen passiert, sind solche Nachrichten dieser Tage entsetzlich. Während der Rest der Welt sich an die Bilder aus dem Gazastreifen zu gewöhnen scheint, fühlt Fatima sich heute genauso in der Hölle wie vor vier Wochen. Ihre Eltern und die 13 Geschwister sind in der Enklave gefangen. Ihrer Nichte mussten beide Beine amputiert werden, wegen des Stress der permanenten Lebensgefahr leidet ihr Vater neuerdings an Inkontinenz, der Bruder wurde am Rücken von Granatsplittern getroffen.
Immer ist da die Sorge: Wie geht es denen in Gaza?
Manchmal kann sie ihre Familie in Jabalia im nördlichen Gazastreifen tagelang nicht erreichen. Sie weiß nicht, ob sie tot oder noch am Leben sind. Die Angst zermürbt sie. Gestern Abend kam nach Tagen der Ungewissheit wieder eine vorläufige Entwarnung: "Heute habe ich meinen Bruder erreicht. Er sagte mir, es geht Ihnen gut", sagt sie.
Weil Fatima sich in einer NGO für die Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern einsetzt und viele ihrer Nachbarn in Bethlehem solche Arbeit ächten, will sie lieber nicht mit vollem Namen zitiert werden. Ihre Arbeit ist schwerer geworden seit dem 7. Oktober. Auch für sie persönlich. "Ich weiß, dass viele Israelis Frieden wollen", sagt sie. Aber in den Momenten der Angst um ihre Familie sei es auch für sie manchmal, schwer das fühlen.
In Israels einziger Metropole Tel Aviv wird der Platz vor dem Kunstmuseum inzwischen landläufig als "Platz der Entführten" bezeichnet. Eine lange Schabbat-Tafel erinnert an die mehr als 220 Geiseln, die seit vier Wochen im Gazastreifen festgehalten werden. Menschen verteilen Anstecker und T-Shirts, Fotos der Geiseln, häufig Bilder aus besseren Zeiten, sollen an sie erinnern. Naomi, 75, magentafarbener Lippenstift, hat sich eine israelische Flagge umgehängt. Sie ist zum Gedenken an den 7. Oktober aus einer Vorstadt von Tel Aviv ins Zentrum gekommen, "um den Familien der Geiseln beizustehen", sagt sie. Um 11 Uhr gab es eine Schweigeminute für die Opfer des 7. Oktober, jemand in der Menge stimmte die Nationalhymne an. Wenig später wurde ein Teil des Platzes wegen einer Bombenwarnung vorübergehend geräumt – man hat ein verdächtiges Objekt gefunden.
Es macht Naomi wütend, dass ihre Regierung es nicht zustande gebracht hat, eine zentrale Gedenkveranstaltung für die Opfer zu organisieren. "Wahrscheinlich trauen sie sich nicht zu uns", spottet sie. "Sie wissen, dass wir sie nicht wollen." Premierminister Benjamin Netanjahu müsse zurücktreten, dafür müsse sie kein Poster in die Luft halten, das sei sowieso klar. So wie Naomi sehen es viele von denen, die zur Unterstützung der Opferfamilien auf die Straße gehen. Für Proteste, die auf den Rücktritt der Regierung fokussiert sind, haben die wenigsten Energie. Aber das sei wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, so jedenfalls sieht es Naomi.
Auch tagsüber leben viele wie in einem Alptraum
So wie viele in Israel kennt sie mehrere Menschen, die direkt von den Anschlägen betroffen sind. Die Bilder und Geschichten holen sie regelmäßig im Traum wieder ein. Dass Israels Armee jetzt im Gazastreifen ist, beruhigt sie – auch wenn man die Fehler der Militärs, die zum Terror-Angriff der Hamas geführt haben, nach dem Krieg analysieren müsse.
Viele Israelis leben seit einem Monat auch tagsüber wie in einem Albtraum. Die Geschichte ihrer Schwester ständig zu wiederholen, das fühle sich schrecklich an, sagt Roni Roman. "Aber es ist das einzige, was wir tun können." Yarden Roman ist eine der Geiseln im Gazastreifen. Die Familie kümmert sich um nichts anderes mehr, als zu versuchen, Yarden nach Hause zu bringen. Niemand geht mehr zur Arbeit. Alle hoffen, dass die Arbeitgeber oder der Staat mit Geld aushelfen, bis die Geiseln wieder zuhause sind.
Ronis Aufgabe ist es, das "Hauptquartier" zu managen – so nennt die Familie das Wohnzimmer in Tel Aviv. Dort werden Social-Media-Aufrufe gepostet, Videos der Hamas auf den noch so kleinsten Hinweis geprüft und Yardens dreijährige Tochter umsorgt. Als der stern die Familie kurz nach der Entführung zum ersten Mal traf, saßen die Familienmitglieder und Freunde bis spät in die Nacht an ihren Laptops. Es galt: Jede Minute zählt, schlafen können wir, wenn Yarden zurück ist.
Jetzt, einen Monat später, sagt Roni: "Wir wechseln gerade vom Sprint- in den Marathon-Modus. Das ist eine gruselige Vorstellung, aber wir setzen uns gerade damit auseinander, dass das noch Wochen oder Monate so gehen könnte." Dafür müsse man mit den Kräften haushalten, genug schlafen, genug essen. Von irgendeiner Art von Normalität ist man weit entfernt. Das gilt für die Romans. Das gilt für Israel.