Wenn Ordnung tatsächlich das halbe Leben ist, dann kann John Bercow als Kronzeuge für dieses Sprichwort herhalten: Zehn Jahre lang hat er als Speaker im britischen Unterhaus für Recht und Ordnung gesorgt, fungierte als Schiedsrichter in zahlreichen Verbalschlachten, war Nemesis für allzu aufmüpfige Abgeordnete. Und davon gab es in den haarsträubenden Brexit-Jahren, die Bercow sozusagen als Zivi des politischen Anstands begleitet hat, nicht zu wenige. Mehr als 14.000 Mal hallten seine bellenden "Oooorder!"-Rufe durch das Londoner Unterhaus, sie sind ebenso legendär wie der frühere "Mr. Speaker" selbst. Als er im Oktober 2019 zurücktrat, war er der am längsten amtierende Unterhaus-Sprecher seit dem Zweiten Weltkrieg.
Insofern ist es nur konsequent, dass Bercow – auch etwas mehr als eineinhalb Jahre nach seiner "Last Order" – zur Sprache bringt, was er alles für nicht in Ordnung hält. Und das ist eine ganze Menge.
Die konservativen Tories unter Premierminister Boris Johnson seien "reaktionär, populistisch, nationalistisch und manchmal sogar fremdenfeindlich", sagte er am Sonntag im "Observer / The Guardian". Johnson sei zwar ein "erfolgreicher Wahlkämpfer, aber miserabler Regierungschef". Der Premier habe keine Vision für eine "gerechtere Gesellschaft", immer mehr Menschen hätten es satt, "Lügen und leere Parolen" zu hören. Die Regierung müsse abgelöst werden – und nur die Labour-Partei sei in der Lage, dieses Ziel zu erreichen.
Im Zuge seiner verbalen Breitseite verkündete der ehemalige Abgeordnete der Tories, dass er nun der oppositionellen Labour-Partei angehöre. In anderen Worten: Bercow hat die Seiten gewechselt. Ein durchaus bemerkenswerter Schritt – aber für einen Politiker von Bercows Kaliber womöglich nur logisch.
Ein Bollwerk im Brexit-Geschacher
Der frühere "Mr. Speaker" konnte als Prototyp gelten, der vermutlich nie in Serie gehen wird. Einer, "der einfach zu gern redet und im Zweifel zu viel", wie er einst sagte. Immer wieder hat er als Unterhaus-Sprecher geltende Regeln über Bord geworfen und mit Gepflogenheiten gebrochen – auch zum Unmut seiner nunmehr früheren Tory-KollegInnen.
Im Brexit-Geschacher positionierte sich Bercow stets als Verteidiger des Parlaments, wurde damit das ein oder andere Mal zum Gegenspieler der Regierung. Und damit, theoretisch, auch seiner eigenen Leute. 1997 zog er einst als Tory ins Unterhaus ein, ließ ab 2009 seine Mitgliedschaft mit der Wahl zum Unterhaussprecher ruhen. Dennoch mischte er stets engagiert in der politischen Debatte mit. Kritiker kreideten ihm genau das an: Als eigentlicher Schiedsrichter habe er neutral zu sein.
Als Unterhauspräsident legte er die Rechte der Abgeordneten großzügig aus, bereitete Ex-Premierministerin Theresa May und ihrem Nachfolger Boris Johnson desöfteren empfindliche Niederlagen. Und hielt auch nicht mit Kritik zurück: Als Johnson das Parlament später in eine Zwangspause schickte, kanzelte er das politische Husarenstück als solches ab – ein "Akt exekutiver Ermächtigung" sei das, sagte er damals. Seine klare Kante blieb wohl nicht ohne Retourkutsche: Später wurde er von Johnson nicht als Mitglied für das Oberhaus nominiert, wie es eigentlich für ehemalige Unterhauspräsidenten üblich ist. Bercow ist damit der erste Sprecher in mehr als zwei Jahrhunderten, dem diese Ehre nicht zuteil wurde.
Überhaupt war Bercows Wirken alles andere als üblich. Das traditionsreiche (und -bewusste) Unterhaus entstaubte er im großen Stil. So schaffte er etwa das Tragen der traditionellen Perücken ab, erlaubte den Abgeordneten ohne Krawatten zu erscheinen (wofür ihn selbst die konservativsten Abgeordneten irgendwo dankbar gewesen sein dürften). Zumindest hatte er als 157. "Speaker of the House of Commons", so der offizielle Titel, nicht mehr das Schlimmste zu befürchten: Mehrere seiner Vorgänger überlebten den Posten nicht – sie wurden geköpft.
"Ich rede einfach zu gern und im Zweifel zu viel"
Vielmehr redete er sich um Kopf und Kragen. "Ich rede einfach zu gern und im Zweifel zu viel", räumte der aus einfachen Verhältnissen stammende Politiker in einem Interview ein. "Meinen Sprachstil habe ich von meinem Vater geerbt, der recht gestelzt sprach." Schon als Kind las Bercow Zeitung, kandidierte für das Schülerparlament und protestierte gegen das Schulessen. Er habe keine Probleme, vor einer Menge zu sprechen. Dagegen gehöre Tanzen zu seinen Urängsten – und seine Furcht davor könne er "nur mit einer beträchtlichen Menge Alkohol" überwinden.
Viel Beifall, aber auch Kritik bekam Bercow für seine Ankündigung, dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump einen Besuch im Unterhaus zu verwehren – und warf ihm dabei indirekt Rassismus und Sexismus vor. Doch gab es immer wieder auch massive Vorwürfe gegen ihn von Ex-Mitarbeitern und Kollegen. Sein Ex-Privatsekretär Angus Sinclair etwa behauptete, Bercow habe ihn vor anderen Mitarbeitern angeschrien. Mehrere Parlamentarierinnen soll er beleidigt haben.

Ein Bericht aus dem Jahr 2018 beschuldigt ihn zudem, einer Parlamentskultur vorgestanden zu haben, in der "Mobbing, Belästigung und sexuelle Belästigung" gedeihen konnten. "Ich denke, diese Andeutung (...) ist völlig falsch", sagte er nun in einem Interview mit Sky News. Es habe eine einzige Beschwerde über ihn gegeben, die abgewiesen worden sei.
Der hochrangige Labour-Abgeordnete John McDonnell bezeichnete Bercows Behandlung der Abgeordneten als "skrupellos fair". "Er hat unseren Respekt gewonnen, besonders für seinen Kampf, die Rechte des Parlaments zu schützen. Ich heiße ihn von ganzem Herzen in der Labour-Partei willkommen", twitterte McDonnell nach Bercows Seitenwechsel. Die Konservativen versuchten derweil, die Bedeutung von Bercows Abgang herunterzuspielen. "Um John Bercow gegenüber fair zu sein", sagte Justizminister Robert Buckland zu Sky News, "ich denke, er hat die Konservative Partei schon vor langer Zeit verlassen."
Quellen: "Observer / The Guardian", ZDF, "Süddeutsche Zeitung", "Spiegel Online", mit Material der Nachrichtenagenturen DPA und AFP