Lügen, Chaos, Versagen: In einer stundenlangen Generalabrechnung hat der ehemalige Top-Regierungsberater Dominic Cummings über die Corona-Politik von Premierminister Boris Johnson hergezogen (alle Hintergründe lesen Sie hier). Johnson sei "ungeeignet", die Regierung zu führen, sagte Cummings in London am Mittwoch vor Parlamentariern. Der Regierungschef habe das Virus völlig unterschätzt, es habe keine vorbereiteten Krisenpläne gegeben. In britischen Medien ist unlängst von der "Cummings-Granate" die Rede, die Befragung ist das Top-Thema auf zahlreichen Titelseiten. Ein Überblick.
Das britische Medienecho zur Cummings-Breitseite
Zahlreiche Zeitungen schlagzeilten mit einem Zitat von Cummings: "Zehntausende Menschen sind gestorben, die nicht hätten sterben müssen." Darunter der "Guardian"...
... und der "Indipendent". Aber auch der "Daily Mirror" und "i" titelten mit Cummings Anschuldigung, die Premierminister Johnson umgehend zurückwies.
Ins Visier nahm Cummings auch Gesundheitsminister Matt Hancock, dem er Lügen und kriminelles Verhalten vorwirft. Der Ressortchef habe etwa bei der Beschaffung von Schutzausrüstung versagt und versucht, die Schuld auf andere zu schieben. Ein Sprecher des Gesundheitsministeriums wies die Vorwürfe gegen seinen Chef zurück: Jeder in dem Ministerium habe "unglaublich hart gearbeitet", um den Gesundheitsdienst NHS zu schützen und Leben zu retten. Auch Johnsons Sprecher verteidigte Hancock, der weiterhin im Amt ist.
Darüber hinaus beschrieb Cummings eine Regierung auf Zick-Zack-Kurs: Der eigentliche Plan sei gewesen, eine Herdenimmunität zu erreichen. So habe Mitte März 2020 der damalige oberste Spitzenbeamte Mark Sedwill gesagt, Johnson solle zu Coronavirus-Partys aufrufen, ähnlich wie Eltern Windpockenpartys für ihre Kinder veranstalten. Kabinettsmitglieder hatten die Vorwürfe schon vor der Aussage zurückgewiesen.
Zwar beteuert Cummings, mit seiner Aussage wolle er die Wahrheit ans Licht bringen. Doch es wirkt streckenweise wie ein Rachefeldzug: Die einstige "graue Eminenz" hatte die Regierung im November 2020 im Streit verlassen. "Ja, es wurden Fehler gemacht", titelte daher etwa der "Daily Express", "aber das war reine Rache".
Auch der "Daily Telegraph" unterstellt unlautere Motive, sieht Cummings "Rache" an seinem früheren Chef nehmen.
Es sind mehrere potenzielle Minen, die der einst mächtigste Mann an Johnsons Seite seinem früheren Chef in den Weg legt – und diesem sowie seinem Kabinett ordentlich Druck machen. "The Scotsman" fasste den möglicherweise politischen Sprengstoff daher als "Die Cummings-Granate" zusammen.
Auch die "Daily Mail" griff zu einer martialischen Wortwahl, bezeichnete Cummings Äußerungen als "toxische Rache" und ließ auf ihrer Titelseite die "Domshell" platzen – eine Abwandlung des englischen Wortes "bombshell", das sich als Bombe übersetzen lässt und in Medienerzeugnissen oft als Schlagwort für brisante Enthüllungen oder Anschuldigungen gebraucht wird.
Cummings Anschuldigungen fielen drastisch und zahlreich aus, in den Augen der "Times" ließ er Feuer auf Downing Street 10 regnen.
In seiner Generalabrechnung sprach Cummings dem Premier praktisch alle Qualitäten ab. Es gebe "Abertausende" Menschen, die kompetenter seien als Johnson – ein Schlag ins Kontor, der es auf die Titelseiten der "Financial Times" und der "Yorkshire Post" schafften.
Dabei gebe es unter den Berufsbeamten, zumindest nach Cummings Ansicht, viele brillante Köpfe. "Das Problem in dieser Krise war, dass immer wieder Löwen von Eseln geführt wurden." Er bezog die Kritik ausdrücklich auch auf sich. Cummings zeichnete vor den Mitgliedern zweier Parlamentsausschüsse das Bild eines selbstverliebten Premierministers, dem es nur um den Machterhalt geht, und der die Gefahr einer Gesundheitskrise lange ins Lächerliche zog. Dennoch habe Johnson Kurs gehalten, so Cummings.

Johnson und sein Kabinett setzen die Anschuldigungen unter Druck, nicht zuletzt durch die große Aufmerksamkeit in den Medien. Wohnungsbauminister Robert Jenrick bedauerte im BBC-Fernsehen am Donnerstag "Irrtümer und Fehler" der Regierung im Umgang mit der Pandemie. Die Öffentlichkeit werde aber verstehen, dass es sich um eine nie da gewesene Situation gehandelt habe. "Ich kann sagen, dass wir jederzeit mit den besten Absichten und Intentionen gehandelt haben anhand der Informationen, die verfügbar waren", so Jenrick. Hancock kündigte an, sich am Donnerstag im Unterhaus Fragen zu stellen. Auch von Johnson wird eine Reaktion erwartet.