Wenn sich zwei Dinge nur bedingt miteinander vereinbaren lassen, dann ist es der Kampf gegen das Coronavirus und belastbare Pläne zu machen. Niemand dürfte das besser wissen als die Briten.
Im vergangenen Dezember schnellten die Infektionszahlen in die Höhe. Eine hochansteckende Virusvariante breitete sich im Vereinigten Königreich aus. Und Boris Johnson musste "schweren Herzens" eine Entscheidung treffen: "Wir können mit Weihnachten nicht fortfahren wie geplant."
Der britische Premierminister sah sich gezwungen, harte Maßnahmen in England zu ergreifen. Kontaktbeschränkungen, die über die Festtage gelockert werden sollten, wurden verschärft. Und Weihnachten, im Kreise der Familie und Freunden, praktisch abgesagt. "Wir opfern unsere Chance, unsere Lieben dieses Weihnachten zu sehen, um eine größere Chance zu haben, ihr Leben zu schützen", erklärte Johnson damals, "damit wir sie an künftigen Weihnachten sehen können."
Zumindest dieser Plan dürfte aufgehen. Fragt sich nur, unter welchen Bedingungen. Denn nun, zehn Monate später, könnte das Coronavirus erneut vermeintliche Gewissheiten umwerfen.
Plan B bleibt in der Schublade
"Vorsichtig, aber unumkehrbar" – so hatte Johnson die schrittweise Aufhebung der Corona-Maßnahmen in England angekündigt. Am 19. Juli war es soweit. Im größten britischen Landesteil fielen die letzten Pandemie-Regeln wie Abstand halten und Maskentragen. Junge Nachtschwärmer feierten den "Freedom Day", die große Freiheit, ausgelassen in den Diskotheken des Landes.
Doch knapp 100 Tage später ist vielen nicht mehr zum Feiern zumute.
Großbritannien hat inzwischen eine der höchsten Infektionsraten weltweit. Die Sieben-Tage-Inzidenz lag bereits Mitte Oktober bei etwa 450, Tendenz steigend. Die als Impfwunder gefeierte Kampagne – die zu Beginn viel schneller anlief als in vielen EU-Ländern – gerät bei den Auffrischungsimpfungen für Ältere und Jugendliche ins Stocken.
Nun kletterte die Zahl der registrierten Neuinfektionen auf beinahe 50.000 – das sind mehr Fälle, als Deutschland, Spanien und Frankreich zusammen verzeichnen. Und auch die Zahl der täglichen Krankenhauseinweisungen steigt. Sie liegt nun bei fast 1000. Am Dienstag erreichte die Zahl der gemeldeten Corona-Toten mit 223 einen Stand wie zuletzt im März.
Ist es Zeit für den Plan B?
Diesen hatte Johnson vor einigen Wochen für den Winter angekündigt, sollte die Pandemie mit Auffrischungsimpfungen nicht unter Kontrolle gehalten werden können. Der Plan, kurz skizziert: die Rückkehr zur Homeoffice-Pflicht, zum Maskentragen und der Pflicht zum Vorzeigen von Impfpässen bei Großveranstaltungen. Die Notfallpläne würden aber nur bei "unhaltbarem" Druck auf den Gesundheitsdienst NHS in England in Kraft gesetzt, so Johnson.
Diesen Druck sieht 10 Downing Street offenbar noch nicht. Trotz steigender Infektionszahlen sei eine Rückkehr zu den abgeschafften Corona-Regeln derzeit nicht geplant, erklärte Gesundheitsminister Sajid Javid am Mittwoch. Plan B bleibt also vorerst in der Schublade.
Stattdessen sollten nun die Bemühungen verstärkt werden, so viele Menschen wie möglich zu impfen. Besonders bei Jugendlichen und älteren Menschen, die eine Auffrischungsimpfung erhalten sollen, stockt das britische Impfprogramm derzeit. Gleichzeitig warnte Javid davor, dass die Zahl der täglichen Neuinfektionen schon bald auf bis zu 100.000 steigen könne.
"Wir sind am Limit"
Wie das zusammenpassen soll, fragen sich auch Experten und Mediziner. Sie lässt das Handeln von 10 Downing Street irritiert, mitunter bestürzt zurück.
"Es ist bewusst fahrlässig von der Regierung in Westminster, keine Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionen zu ergreifen", teilte der britische Ärzteverband British Medical Association (BMA) mit. Die Regierung habe versprochen, einen Plan B zu ergreifen, wenn der Nationale Gesundheitsdienst (NHS) in Gefahr sei, überwältigt zu werden. "Als Ärzte, die in erster Reihe stehen, können wir absolut sagen, dass dieser Punkt jetzt erreicht ist."
Auch der NHS sieht sich an der Belastungsgrenze. "Wir sind am Limit, und es ist Mitte Oktober", sagte der Geschäftsführer des Verbands der Trägerorganisationen des NHS, Matthew Taylor, dem "Guardian". "Es würde unglaublich viel Glück brauchen, damit wir uns in drei Monaten nicht in einer schweren Krise wiederfinden."
Warum Großbritannien erneut vor einer schweren Krise stehen könnte, dürfte verschiedene Gründe haben.
Womöglich wird den Briten ihr Impfwunder nun teilweise zum Verhängnis, weil die Wirkung bei vielen bereits nachlässt, wie ein Datenjournalist der "Financial Times" (FT) mutmaßt. Ein Effekt, der sich auch in Israel gezeigt hatte. Der statistische Vergleich verschiedener Länder zeige auch, dass die völlig uneingeschränkten Menschenansammlungen in Innenräumen einen großen Anteil haben dürften, so "FT"-Journalist John Burn-Murdoch auf Twitter.
Zu ähnlichen Schlüssen kommt auch der Epidemiologe Neil Ferguson vom Imperial College in London. Er blickt vor allem mit Sorge auf die besonders hohen Infektionsraten unter Jugendlichen. 12- bis 15-Jährige in England werden bislang nur einmal geimpft und die Impfrate ist niedrig. Er fordert daher eine Zweitimpfung für Jugendliche und eine Beschleunigung der Impfkampagne insgesamt, wie der "Independent" berichtete.
Sicher scheint nur, dass nichts sicher ist – kurz vor dem zweiten Weihnachtsfest während der Corona-Pandemie. Die Suche nach einem Masterplan dauert an.
Quellen:"The Guardian", "The Independent", Public Health England, BBC, CNN, mit Material der Nachrichtenagentur DPA