Der Countdown der Russland-Ukraine-Krise läuft, am morgigen Mittwoch schon könnte eine russische Invasion starten – davor jedenfalls haben Geheimdienstler der USA gewarnt. Etwa 140.000 kampfbereite Soldaten Russlands sind offenbar an den Grenzen zur Ukraine stationiert. Montag war Kanzler Olaf Scholz (SPD) in Kiew, heute fliegt er nach Moskau. Pendel-Diplomatie als Dauer-Übung. Genau in dieser Zwischenphase stellt Frank Plasberg die Frage nach der deutschen Rolle in diesem Konflikt: "Hauptsache friedlich und warm: Scheut Deutschland klare Kante gegen Putin?" Das riecht nach beinharter Kanzler-Schelte, nach Spott über "Scholz-Sprech", nach Klagen über mangelnden deutschen Mut. Und nach leidenschaftlichen Dementis. Doch die spätabendliche Runde bei "Hart aber fair" liefert fast nichts von alledem. Es wird vielmehr eine Diskussion, die zur Lage passt: über weite Strecken sehr ernst.
Frank Plasbergs Gäste
- Mariam Lau (Redakteurin im Politikressort der "Zeit")
- Sarah Pagung (Politikwissenschaftlerin, Russland-Expertin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, DGAP )
- Norbert Röttgen (CDU-Bundestagsabgeordneter, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss)
- Michael Roth (SPD-Bundestagsabgeordneter; Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses; Mitglied des SPD-Präsidiums)
- Vassili Golod (Redakteur und Reporter im WDR-Newsroom mit familiären Wurzeln in der Ukraine und Russland, Podcaster)
Nach der Papierform wäre Michael Roth in diesem Kreis so etwas wie der berufene Verteidiger seines Parteifreunds Scholz. Doch der Talk dauert schon eine ganze Weile, bis der Außenpolitiker das erste Mal wirklich in dieser Rolle gefordert ist.
Ist es wie bei Voldemort?
Warum nur spricht der Kanzler nicht aus, dass im Fall der Fälle Nord Stream 2 passé ist, wenn Putin eine Invasion in die Ukraine startet? Ist das wie bei Harry Potters Lord Voldemort, dessen Name nicht genannt werden darf? Roth stellt sich entschieden vor den Kanzler. "Der diplomatische Turbo läuft auf Hochtouren". Details zu diesem "Turbo" und zu Nord Stream 2 aber will er auch auf Drängen Plasbergs nicht durchdeklinieren. Nur so viel: "Wenn man eins und eins zusammenzählt (…), dann dürfte klar sein, dass im Falle eines Falles auch dieses Projekt auf dem Tisch liegt." Es dürfte in der Tat klar sein. Schon länger.
Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen sieht bei der Pipeline ein Problem, das tiefer geht: "Der deutsche Sonderweg Nord Stream 2" habe in anderen Ländern Misstrauen gegenüber Deutschland geweckt. Auch Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) leiste durch politisches Lobbying einen "Beitrag", dass es Zweifel gebe. Röttgen ist – anders als die langjährige Kanzlerin Angela Merkel – seit Jahren ein Gegner dieser Pipeline. Er analysiert, das Projekt durch die Ostsee sei von Russland vor allem als eine Art Bypass gedacht, um bei Gastransporten die Ukraine zu umgehen. Diese Folgen hatte Merkel durch unzählige Gespräche versucht zu begrenzen.
Die Lage heute: Bei der Energieversorgung – so rufen die Gäste an diesem Abend mehr als einmal ins Gedächtnis – hat sich Deutschland in Abhängigkeiten begeben, für die es zahlen muss. Buchstäblich.
Russische Truppen an der Grenze zur Ukraine: Diese Satellitenfotos machen den Westen nervös

Ex-Kanzler als Malus für Scholz
Die Angst vor uferlos steigenden Energiepreisen bestimmt bei vielen im Land den Blick auf die Ukraine und Russland. Eine Kernbotschaft des Abends bei Plasberg: Oft hört es jenseits dieser Frage auch schon auf mit dem Interesse.
Scholz' Start im Regierungsamt fällt in eine düstere, bedrohliche Zeit. Und seine Rolle wird nicht leichter durch die Spielchen seines Vor-Vorgängers. Schröder hat Posten bei Nord Stream, beim Energiekonzern Rosneft, und bald wird er auch noch dem Aufsichtsrat des Staatskonzerns Gazprom angehören. Das kommt bei vielen nicht sonderlich gut an. In Deutschland nicht und erst recht nicht bei den Partnern. Vor wenigen Wochen ermahnte der Ex-Kanzler die Ukraine, das "Säbelrasseln" einzustellen – die Ukraine! Sein Parteifreund Michael Roth wird deutlich: "Ich teile die Auffassung von Gerhard Schröder ganz und gar nicht. Er schadet damit auch den Vermittlungsbemühungen unseres Bundeskanzlers."

"Ich war kurz fassungslos"
Klagen über die Zurückhaltung des deutschen Regierungschefs waren zwischenzeitlich fast zum Schlagzeilen-Klassiker vieler Medien geworden. Doch da hat sich zuletzt einiges getan. Scholz' Interview bei CNN und seine jüngsten Signale in Kiew brachten eine Klarheit, die über Wochen nur mit gutem Willen unterstellt werden konnte. Die Zeit-Journalistin Mariam Lau nimmt den Regierungschef jedenfalls aktuell als "etwas offensiver" wahr. WDR-Reporter Golod reicht das nicht. Golod zur Debatte um die Eskalation an der ukrainischen Grenze: "Der Bundespräsident äußert sich klarer zu diesem Thema als der Bundeskanzler. Ich war kurz fassungslos." Frank-Walter Steinmeier hatte am Sonntag in seiner Rede nach der Wiederwahl an Wladimir Putin appelliert: "Lösen Sie die Schlinge um den Hals der Ukraine!" Golod erwartet "solch klare Statements von der Bundesregierung".
Lau findet die Haltung mancher Bürgerinnen und Bürger, bei denen sich die Anteilnahme an der Ukraine mit dem Verweis auf hohe Energiepreise erschöpft und der Satz "Was geht mich die Ukraine an?" die Haltung bestimmt, einfach nur "shocking". Sie wird geradezu emotional, wenn es um die Menschen in der Ukraine geht: "Das sind meine Nachbarn!" Die hätten schon 2014 einen hohen Preis gezahlt, als sie sich Richtung Europa orientierten. "Sie tun das, was die europäische Sicherheitsordnung ausmacht: nämlich ihr Selbstbestimmungsrecht wahrnehmen." Es wird einer der wenigen lebhafteren Augenblicke des Talks bleiben.
Frage aller Fragen: Was geht in Putins Kopf vor?
Was passiert nun an diesem Brandherd mitten in Europa? Steht eine Eskalation in der Ukraine womöglich, wie vom CIA zuletzt prophezeit, für den morgigen Mittwoch auf der Tagesordnung? Geheimdienste sollten zwar nicht überbewertet werden, betont GAP-Expertin Sarah Pagung, doch sie hält eine dramatische Zuspitzung angesichts der Regierungen, die in den letzten Tagen ihre Leute aus der Ukraine zurückgerufen haben, für durchaus wahrscheinlich.
Und so kreiste die Runde immer wieder um Putin und die Frage, was im Kopf des Mannes mit den kühlen Augen – vielleicht – vor sich geht: seine Zweifel am Freiheitsstreben, seine Angst vor selbstbewussten Bürgerinnen und Bürgern, seine Ziele. Bundeskanzler Scholz macht sich in Moskau ein eigenes Bild.
Die große Tragödie verhindern
Er lässt sich kaum in die Karten sehen, in welche Richtung die von Roth erwähnten "Vermittlungsbemühungen" beim Gespräch heute konkret gehen könnten. Dass eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine auf Eis gelegt wird, könnte eines dieser Signale sein. Das zeichnete sich schon gestern als denkbare Möglichkeit ab – wie auch immer das im Detail zu gestalten wäre.
Vielleicht ist Scholz' Schweigen in diesen Wochen nur konsequente taktische Disziplin. Der Gedanke "Stellt euch vor, es gibt doch keinen Krieg" wurde an diesem oft sehr nüchternen Abend bei Frank Plasberg nur vorsichtig angestoßen; er gab der Runde aber einen eigenen Reiz. Noch ist die große Tragödie vielleicht zu verhindern. Am Ende eines solchen Prozesses würde man über Scholz' Rolle dann auch noch einmal anders reden.