Man kann nicht sagen, sie sei nicht gewarnt worden. Bevor Kamala Harris von Joe Biden zum Running Mate im Wahlkampf gegen Donald Trump berufen wurde, gab es durchaus demokratische Parteifreunde, die ihr davon abgeraten haben, Bidens Ruf zu folgen. "Höflich ablehnen" solle sie, riet beispielsweise Willie Brown, ehemaliger Bürgermeister von San Francisco, der 55-Jährigen.
Die Geschichte habe gelehrt, dass die Vize-Präsidentschaft vor allem eines sei: eine Sackgasse für jede ambitionierte politische Karriere. Noch deutlicher: John Adams, Amerikas erster Vizepräsident überhaupt, bezeichnete sein Amt einst als "das unbedeutendste, das je erfunden wurde oder vorstellbar sei". Allerdings wurde er später trotzdem noch Präsident.
Kamala Harris - inzwischen unsichtbar?
Der Stern der meisten Vize-Kandidaten sei gesunken, kaum dass sie nominiert worden waren. Bei Kamala Harris sei es sogar noch schlimmer, urteilt J.T. Young, während der Amtszeit des Republikaners George W. Bush unter anderem Kommunikationdirektor beim Stabschef des Weißen Hauses, auf dem Polit-Portal "The Hill". Das liege an der Fallhöhe der Kalifornierin. Harris, erste afroamerikanische Frau, die für das Amt der Vize-Präsidentin nominiert wurde, sei von einer historischen zu einer unsichtbaren Figur geworden. So sei nun mal die Rolle. Der Running Mate müsse für Ausgleich sorgen ("balance the ticket") und dürfe ansonsten dem Kandidaten bloß nicht in den Rücken fallen. Das war's.
Ganz fair ist die Einschätzung nicht, zieht Kamala Harris doch durchaus durchs Land und kämpft aktiv dafür, Donald Trump aus dem Weißen Haus zu bugsieren. Ob in schwarzen Communities in Philadelphia im wichtigen Swingstate Pennsylvania, in den von riesigen Feuern zerstörten Regionen ihres Heimatstaates Kalifornien oder beim Treffen mit der Familie des durch Polizeigewalt lebensgefährlich verletzten Afroamerikaners Jacob Blake in Kenosha im ebenfalls stark umkämpften Staat Wisconsin - überall ist die Juristin durchaus "sichtbar". Stark wahrgenommen wurde in der Öffentlichkeit auch, dass sie häufig in Sneakers auftritt - nicht nur als Frage des Dress Codes, sondern auch als Zeichen der Fähigkeit, die Ärmel hochzukrempeln und sich schmutzig zu machen.
Gefangen in der Wahlkampf-Strategie
Gemessen an der internationalen Aufregung um ihre als historisch gefeierte Nominierung und der allgemeinen Erwartungshaltung, die zupackende Frau werde dem eher betulichen Joe Biden jenen Schwung verschaffen, den er selbst nicht mehr entfalten könne, und somit Amtsinhaber Trump frontal angreifen, verläuft Kamala Harris' Wahlkampf bisher dennoch ruhig. Und das, obwohl dem Running Mate im Allgemeinen durchaus die Angriffsrolle zufällt, damit der Präsidentschaftskandidat oder die -kandidatin frei vom "schmutzigen Wahlkampf" bleiben kann und trotzdem nichts ungesagt bleibt.
Laut J.T. Young muss diese Rolle, für die Harris prädestiniert wäre, aber Biden selbst erfüllen. Der Grund liege darin, dass die gesamte Wahlkampf-Kampagne der Demokraten als ein einzige Attacke auf den amtierenden Präsidenten angelegt sei. Joe Biden müsse also selbst der Angreifer sein. Genau das sei seit dem Nominierungsparteitag auch zu beobachten. Biden - von Donald Trump gerne als "Sleepy Joe" oder "Joe Hiden" verspottet - habe mit dieser Rolle zudem bereits Erfahrung - schließlich war er Barack Obamas Running Mate und Vize.
Hat Harris ihre Schuldigkeit schon getan?
Young glaubt, dass auch Bidens lange Zurückhaltung im Wahlkampf - meist mit den Corona-Bedingungen erklärt - Teil der Demokraten-Strategie war: Biden weitgehend rausnehmen und voller Fokus auf Trump, der sich angesichts von "vier historischen Krisen" (Corona, Wirtschaftskrise, Rassenunruhen, Klimawandel) selbst schlage. Eine laut agierende Kamala Harris wäre da nur kontraproduktiv gewesen. Zynisch gesprochen, so Young weiter, habe Harris ihre Schuldigkeit bereits getan, indem sie Bidens Versprechen, eine Frau als Running Mate zu präsentieren, ebenso erfüllte wie die Erwartung seiner Basis, bei der Auswahl des oder der Vize die Minderheiten zu berücksichtigen.
Doch dass eine so ausgeklügelte Strategie eine Wahlkämpferin vorsieht, deren Stärken kaum oder gar nicht in die Waagschale geworfen werden können, scheint unlogisch. Stets gelobt wird Kamala Harris' Fähigkeit, wirkungsvoll in Debatten aufzutreten. Und das wird sie am 7. Oktober zeigen können, wenn sie im TV-Duell der Running Mates gegen Vize-Präsident Mike Pence antritt. Die Demokraten rechnen fest damit, dass dieser Punkt an sie gehen wird - und zwar deutlich. Dass der eher dröge Evangelikale gegen seine charismatische Herausforderin etwas auszurichten vermag, gilt selbst im Trump-Lager als unwahrscheinlich.
Anhörung zur Ginsburg-Nachfolge ist Harris' Bühne
Vollends zur Geltung kommen sollten Kamala Harris' Fähigkeiten jedoch durch die aktuellen politischen Entwicklungen. Nach dem Tod der liberalen Supreme-Court-Richterin Ruth Bader Ginsburg will Präsident Trump alles versuchen, den frei gewordenen Sitz im höchsten US-Gericht noch vor den Wahlen in seinem Sinne neu zu besetzen und damit die Konservativen im Richtergremium auf Jahre hinaus zu stärken. Doch Trumps Vorschlag muss vom mächtigen Justizausschuss des Senats bestätigt werden. Als Senatorin und frühere Staatsanwältin in Kalifornien ist Kamala Harris Mitglied des Ausschusses. Die fällige Anhörung dürfte zu Harris' großer Stunde werden. Mitten im Wahlkampf kann sie unter den Augen der US-Öffentlichkeit ihre politischen Fähigkeiten demonstrieren und die Botschaft der Biden-Kampagne nachdrücklich vertreten, dass der Ginsburg-Posten fairerweise erst nach der Wahl besetzt werden sollte.
"Gerade in der Diskussion darüber, was passieren soll, verleiht ihr ihre Rolle in der Justiz meiner Meinung nach ein höheres Profil", glaubt Harris' Senatorenkollege Tim Kaine aus Virginia, der im Wahlkampf 2016 an der Seite von Hillary Clinton gegen Trump kämpfte. "Die Menschen werden ihr etwas genauer zuhören, wenn sie wissen, dass sie Mitglied des Justizausschusses ist", glaubt Kaine.
Beeindruckender Auftritt in Kavanaugh-Anhörung
Schon einmal hat Kamala Harris bei einer Anhörung zur Besetzung eines Supreme-Court-Stuhls für Aufsehen gesorgt. In einem denkwürdigen Wortgefecht zum Abtreibungsrecht fragte Harris den umstrittenen damaligen Kandidaten Trumps, Brett Kavanaugh, ob er von Gesetzen wisse, die es der Regierung erlaubten, den Körper von Männern zu kontrollieren. Kavanaugh - zu dieser Zeit mit Vorwürfen sexueller Belästigung konfrontiert - hatte darauf keine Antwort, wurde jedoch dennoch bestätigt.
Den Amtsinhaber im Weißen Haus hat Kamala Harris mit ihrem damaligen Auftritt mächtig beeindruckt. "Niemand hat jemals so viel gelitten wie Richter Kavanaugh in den Händen und Mündern dieser schrecklichen Menschen", sagte Donald Trump am Tag nach Ruth Bader Ginsburgs Tod. "Sie haben ihn leiden lassen, und meiner Meinung nach war der Leitwolf: Kamala."