stern-Reporterin Bettina Sengling erzählt ausführlich sehr bewegende Geschichten von Menschen, denen sie in Russland begegnet ist. Sie verfolgt einen Prozess in St. Petersburg, bei dem eine Frau angeklagt ist, die in einem Supermarkt mit Zetteln auf den Krieg in der Ukraine aufmerksam gemacht hat. Die junge Frau hatte die Zettel als Preisschilder getarnt, wurde aber von einer anderen Kundin angezeigt. Jetzt sitzt sie in Untersuchungshaft und ihr drohen zehn Jahre Haft.
Nicht nur durch harte Strafen und durch Abschreckung beeinflusst Putin sein Volk. Er fängt auch schon bei Kindern an. Seit Kriegsbeginn gebe es in Schulen "Stunden über das Wichtige", in denen über politische Fragen debattiert werde. Dazu habe die Kadettenbewegung einen Aufschwung erlebt, auch in den Schulen gebe es extra Klassen dafür. In der Jung-Armee seien inzwischen mehr als einE Millionen Kinder aktiv. Sie sei ähnlich organisiert wie die Pfadfinder, aber mit militärischen Inhalten. "Da wird dann marschiert, die haben auch so eine Art Uniform an, die nehmen Kalaschnikow-Gewehre auseinander, machen so Kämpfe und nehmen an patriotischen Aktionen teil." Viele dieser Kinder wollen später zur Armee oder in den Staatsdienst.
Russland feiert Kampf gegen angeblichen Faschismus
Am 2. Februar war der 80. Jahrestag der Schlacht um Stalingrad, Tage die Putin feiert. Die gesamte Inszenierung um den Zweiten Weltkrieg habe eine große Bedeutung in Russland, weil der Kreml die Parallele zwischen dem Kampf gegen den Faschismus damals und gegen den angeblichen Faschismus heute herstellt, da er die Ukrainer als Faschisten bezeichnet. Solche Tage wie der 2. Februar oder auch der 9. Mai werden gefeiert, dem könne man sich in Russland kaum entziehen, erklärt Bettina Sengling.
Die journalistische Arbeit ist auch für sie oft nur eingeschränkt möglich. Manchmal würden russische Journalisten des Staatsfernsehens sie angehen. Dazu sei es auch schwer, Interviewpartner dazu zu bewegen, mit ihr zu sprechen. Viele hätten Angst. Deshalb ist es ihr auch besonders wichtig, ihre Interviewpartner zu schützen. Alle Texte werden durch russische Juristen geprüft, damit niemand in Gefahr kommt.
Kinder aus Waisenhäusern in der Ukraine verschleppt
Die meisten ihrer russischen Kollegen, die liberal eingestellt sind, seien längst ausgereist. Sengling arbeitet gerade an einer Geschichte über ein Vater und seinen Sohn. Beide waren Journalisten und haben viel über Militär und Waffenhandel geschrieben. Der Vater sei schon 2008 aus ungeklärter Ursache aus dem Fenster gefallen – man gehe von Mord aus. Sein Sohn wurde jetzt wegen des Vorwurfs der Spionage zu 22 Jahren Haft verurteilt. "Da sieht man bei dieser einen Familie, die überhaupt nicht kämpferisch, oppositionell eingestellt war, wie sich dieses Putin-Land mittlerweile gestaltet (…) und wie wahnsinnig hart und brutal es auch geworden ist."
Sengling war nicht nur in Russland, sondern auch in der Ukraine und arbeitet aktuell an einer Geschichte über verschleppte Kinder aus Waisenhäusern. Man habe damals versucht, die Kinder zu verstecken, teilweise wurden sie aber gefunden und von den Russen abgeholt. Mittlerweile weiß man, dass sie auf der Krim in einem Waisenhaus leben. Solche Kinder würden die russische Staatsbürgerschaft bekommen und man versuche sie auch in russische Adoptivfamilien unterzubringen. "In der russischen Propaganda hat das Kind aus dem Donbass, das gerettet werden muss, eine große Bedeutung."
Bettina Sengling erklärt die "Stiftung stern"
Gegen Ende des Interviews erzählt Sengling, was die "Stiftung stern" genau macht und wie sie an der Front hilft – in Bunkern, aber auch mit der Evakuierung kranker, alter Menschen. Sie hat eine Frau getroffen, die in einem Hochhaus vergessen wurde. Sie war gehbehindert und habe nichts mehr gehabt, sei bereit gewesen zu sterben. Die gemeinnützige Organisation Proliska, mit der die "Stiftung stern" zusammenarbeitet, konnte sie retten.
Nele Balgo spricht mit stern-Reporterin Bettina Sengling.