Bei einem Granatenangriff in der Nähe des Büros des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) im Gazastreifen sind laut Angaben der Organisation über 20 Menschen getötet worden. "Am Freitagnachmittag schlugen schwerkalibrige Geschosse in unmittelbarer Nähe des Büros und der Wohnhäuser des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz ein", teilte das IKRK im Online-Dienst X mit.
"Dieser Vorfall löste einen massenhaften Zustrom von Opfern auf das nahegelegene Feldkrankenhaus des Roten Kreuzes aus", fügte die Organisation hinzu. Dort seien 22 Tote und 45 Verletzte registriert worden. Es gebe Berichte über weitere Opfer.
In der Umgebung des IKRK-Büros leben hunderte Vertriebene in Zelten. Angriffe in "gefährlicher Nähe humanitärer Einrichtungen gefährden das Leben von Zivilisten und Mitarbeitern des Roten Kreuzes", schrieb die Organisation weiter. Die Standorte seien den Konfliktparteien bekannt und zudem "deutlich mit dem Emblem des Roten Kreuzes gekennzeichnet".
Israel weist Vorwürfe zurück
"Dieser schwerwiegende Sicherheitsvorfall ist einer von mehreren in den vergangenen Tagen", heißt es weiter. "Bereits zuvor haben verirrte Kugeln Standorte des IKRK getroffen." Die Organisation rief Israel und die radikalislamische Hamas angesichts des Kriegs im Gazastreifen bereits mehrfach dazu auf, Zivilisten zu schützen.
Das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium im Gazastreifen meldete 25 Tote und 50 Verletzte bei dem Angriff. Die israelische Armee habe "Zelte von Vertriebenen in der Gegend von Al-Masawi" angegriffen. In dem Ort bei Rafah liegt das Büro des IKRK.
Ein Sprecher der israelischen Armee sagte, es gebe "keine Hinweise darauf, dass die Armee einen Angriff in der humanitären Zone in Al-Mawasi ausführte". Der Vorfall werde untersucht.
Der Ort Al-Mawasi liegt wenige Kilometer nordöstlich von Rafah. Die an Ägypten grenzende Stadt steht seit Anfang Mai im Mittelpunkt einer israelischen Militäroffensive. Israel will dort die letzten Bataillone der Hamas zerschlagen. Dort hatten etwa eine Million Menschen auf engstem Raum Schutz vor Kämpfen in anderen Teilen des Gazastreifens gesucht. Als die Bodenoffensive der Israelis begann, flohen sie erneut. Viele kamen nach Al-Mawasi, wo es jedoch nach Angaben von Hilfsorganisationen an Unterkünften, sanitären Einrichtungen, Wasser und Nahrungsmitteln mangelt. Augenzeugen berichteten am Freitag, dass israelische Panzergranaten völlig überraschend in dem dortigen Zeltlager eingeschlagen seien. Unabhängig ließen sich diese Angaben nicht überprüfen.
Der Krieg im Gazastreifen war durch den Großangriff der Hamas auf Israel ausgelöst worden, bei dem islamistische Kämpfer laut israelischen Angaben 1194 Menschen töteten und 251 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen verschleppten. Als Reaktion geht Israel seither massiv militärisch im Gazastreifen vor. Nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums, die nicht unabhängig überprüft werden können, wurden dabei bislang mehr als 37.430 Menschen getötet.
UN-Generalsekretär: Libanon darf kein zweites Gaza werden
Unterdessen kam es an Israels Grenze zum Libanon am Freitag erneut zu gegenseitigem Beschuss. In Reaktion auf wiederholte Angriffe auf Gebiete im Norden Israels flog die israelische Armee nach eigenen Angaben Luftangriffe gegen mehrere Stellungen der proiranischen Schiitenmiliz Hisbollah im Süden des Libanons, wie das Militär am Abend mitteilte. Zuvor seien Angriffe aus dem Libanon auf Gebiete im Norden Israels erfolgt. Es habe dabei keine Berichte über Verletzte gegeben, hieß es. Die Angaben ließen sich zunächst unabhängig nicht überprüfen. Seit Beginn des Krieges im Gazastreifen kommt es täglich zu militärischen Konfrontationen zwischen der israelischen Armee mit der Hisbollah im Grenzgebiet zwischen Israel und dem Libanon. Auf beiden Seiten gab es dabei Tote.
"Eine unüberlegte Handlung – eine Fehlkalkulation – könnte eine Katastrophe auslösen, die weit über die Grenze hinausgeht und, offen gesagt, die Vorstellungskraft übersteigt", warnte UN-Generalsekretär António Guterres am Freitag in New York. Die Menschen in der Region und in aller Welt könnten es "sich nicht leisten, dass der Libanon ein weiteres Gaza wird", sagte er.
Die Gefahr einer Ausweitung sei "real" und müsse vermieden werden. In Ortschaften beiderseits der Grenze hat der gegenseitige Beschuss bereits schwere Zerstörungen angerichtet. Rund 150.000 Menschen wurden evakuiert oder verließen die Kampfzone. Die Hisbollah ist mit der Hamas verbündet, gilt aber als deutlich schlagkräftiger.
Israel will durch militärischen und diplomatischen Druck erreichen, dass sich die islamische Miliz wieder hinter den 30 Kilometer von der Grenze entfernten Litani-Fluss zurückzieht – so wie es die UN-Resolution 1701 vorsieht. "Die Parteien müssen dringend zur vollständigen Umsetzung der Resolution 1701 des Sicherheitsrates zurückkehren und unverzüglich zu einer Einstellung der Feindseligkeiten übergehen", forderte Guterres. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) reist angesichts der wachsenden Sorgen vor einer Eskalation des Konflikts nächste Woche zu Gesprächen nach Israel und in den Libanon.
Katar weiter um Waffenruhe zwischen Israel udn Gaza bemüht
Der UN-Generalsekretär beklagte, es herrsche "totale Gesetzlosigkeit" im Gazastreifen. Es gebe "extreme Schwierigkeiten bei der Verteilung" von Hilfsgütern in Gaza, Lastwagen würden geplündert. Das Problem bestehe nicht nur darin, Hilfsgüter nach Gaza zu bringen. "Es muss ein Mechanismus vorhanden sein, der ein Mindestmaß an Recht und Ordnung garantiert, damit die Verteilung stattfinden kann", forderte Guterres. Der UN-Chef drängte daher einmal mehr auf eine sofortige Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas.
Bei den indirekten Verhandlungen gibt es nach Aussagen des Vermittlerstaats Katar einige Fortschritte. Es gebe allerdings zwischen Israel und der Hamas "noch immer einige Lücken", sagte Katars Ministerpräsident Mohammed bin Abdulrahman Al Thani am Freitag bei einem Besuch in Spanien. Katar setze seine Bemühungen fort, sagte er weiter. Es habe einige Treffen mit Vertretern der Hamas gegeben. Seit Monaten laufen Bemühungen der Vermittler USA, Katar und Ägypten, Israel zu einer Waffenruhe und die Hamas zur Freilassung der noch rund 120 aus Israel verschleppten Menschen zu bewegen – bislang jedoch ohne einen Erfolg.
Der Auslandschef der Hamas, Ismail Hanija, bekräftigte nach einem Bericht der israelischen Nachrichtenseite "Ynet" vom Freitagabend die Position der Islamistenorganisation. Man sei "offen für jede Verhandlungs- und Waffenstillstandsinitiative", sofern diese die Forderungen nach "Beendigung des Krieges" erfülle. Die Hamas halte an ihren Forderungen wie einem dauerhaften Waffenstillstand und einem vollständigen Rückzug der israelischen Truppen aus dem Gazastreifen fest, hieß es. Israel lehnt ein Ende des Krieges jedoch bisher strikt ab.