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Brexit und EM-Exit Ein Land zerlegt sich selbst

Scherben, überall Scherben. Politik, Fußball, Kultur. Großbritannien versinkt im Chaos. Auf irgendetwas muss doch in Zukunft wieder Verlass sein?! Michael Streck hat da so eine Ahnung.

In Deutschland glauben viele Menschen offenbar, die Briten würden am liebsten die Zeit zurückdrehen. Zumindest mal um eine Woche. Dann alles auf null und von neuem.

Ich bin mir da nicht so sicher.

Ein paar Engländer stellten die Zeit tatsächlich zurück. Allerdings ganz anders als erhofft und gleich um 66 Jahre. 1950 in Belo Horizonte, es war gerade Fußball-WM in Brasilien, verlor die englische Nationalmannschaft gegen den damaligen Fußballzwerg USA mit 0:1. Und flog nach Hause. Bis zum Montag dieser Woche war dies die schlimmste Blamage der an Blamagen ohnehin recht üppigen englischen Fußballhistorie. Island hat die Vereinigten Staaten nunmehr abgelöst. Nach fast sieben Jahrzehnten, könnte man sagen, war das auch an der Zeit.

Künftig gilt: Island ist die neue Maßeinheit für sportliche Pleiten. Das politische Äquivalent zu Island heißt im Übrigen ab sofort David Cameron. Oder Jeremy Corbyn. Oder Boris Johnson. Das wechselt täglich.

EM-Exit passt ins Bild: Scherben überall

Die Niederlage gegen die Vertreter von einer Insel, die nach geologischem Befund der hauptberuflichen Fußball-Legende Gary Lineker mehr Vulkane als Fußballprofis hat, legte sich wie zusätzliche Pein auf die Seelen der wieder vereinten Nation. Vereint in Trauer, Entsetzen und Ungläubigkeit. Über alle Lager hinweg, von Labour bis Tories, von Remain bis Leave, von Nord bis Süd – alle sauer übers Nationalteam. Der Vater der neuen insularen Eintracht, Roy Hodgson, trat zurück wie David Cameron. Aber im Gegensatz zum Staatschef hinterlässt er seinem Nachfolger grundsolides Erbe: Die Gewissheit nämlich, dass England und große Fußballturniere in etwa kompatibel sind wie die Insel und Europa.

Scherben auch dort. Scherben überall.

Vor 50 Jahren gewann England im eigenen Land den bislang einzigen Fußball-WM-Titel. Es war auf dem Höhepunkt der Swinging Sixties, eine Metapher auch für den Aufbruch.

Island ist nun das Gegenteil. Tiefpunkt in schwankender Zeit, eine Metapher für den Zusammenbruch.

Ein Land zerlegt sich gerade vor den Augen seiner Bürger und dem der Rest der Welt. Und zwar in einem Tempo, das sogar den Live-Ticker überfordert. Notizen von der Insel, Stand Dienstag…

*Labour, der alten Volkspartei, ist ihr Vorsitzender abhanden gekommen. Das heißt: doch nicht. Jeremy Corbyn lief erst sein Schattenkabinett davon, dann gab es offene Rebellion. Ein Misstrauensvotum endete mit 172 zu 40 Stimmen gegen ihn. Aber Corbyn will einfach nicht gehen. Er weigert sich standhaft. Fortsetzung folgt. Genau wie bei den…

*Konservativen. Auch bei denen größtes anzunehmendes Führungschaos. David Cameron ist bald Geschichte, die Frage ist: Wer beerbt ihn – und wie lange? Favorisierte Kandidaten sind Boris Johnson (natürlich) und Innenministerin Theresa May als Gegenpol oder Interimslösung. Boris Johnson spielt unterdessen auf Zeit. Er rief erst die Geister, will nun aber nichts überstürzen und schon mal gar nicht den ominösen Paragraphen 50 aus dem Vertrag von Lissabon ziehen, der den Austritt dann auch festnageln würde. Es könnte nämlich andernfalls zum Vorschein kommen, dass der oberste Brexiter gar keinen richtigen Plan für den Brexit hat und sich irgendwie darauf verließ, dass Cameron einen hat, der aber auch keinen hatte und die Kugel einfach weiterschob an die Renegaten. Nun Stillstand. Und die Suche nach dem…

* Plan. Von Boris weiß man seit seiner Zeitungskolumne im "Daily Telegraph" immerhin, dass er gerne im gemeinsamen Markt bleiben würde, und er beruft sich dabei als Fürsprecher ausgerechnet auf den Bundesverband der deutschen Industrie (BDI), der aber zügig dementierte, überhaupt ein Fürsprecher zu sein. Er muss da, wie so oft, irgendwas verwechselt haben. Wie überhaupt die Brexiter offenbar eine Menge verwechselt haben im Eifer des Gefechts. Die im Wahlkampf versprochenen Einschnitte bei der Immigration? Nun ja. Keine Garantie mehr dafür. So schnell nicht. Die berühmten 350 Millionen Pfund, die sie statt nach Brüssel demnächst ins nationale Gesundheitswesen investieren wollten? Nun ja. Auch keine Garantie dafür. Obschon das als mannhohes Versprechen auf Boris’ rotem Brexit-Bus leuchtete. Alles schwerer, alles teurer, alles langwieriger. Alles…

*Chaos. Als ein weiterer potenzieller und eher selbsterklärter Retter im ohnehin schon gigantischen Tumult tauchte zu allem Überfluss auch noch Gesundheitsminister Jeremy Hunt auf. Auch er erwägt nun, seinen Hut in die Ringschlacht um Camerons Nachfolge zu werfen. Hunt, muss man wissen, ist ein Mann von bemerkenswert jämmerlicher politischer Statur, der für massive Kürzungen steht und den ersten Vollstreik junger Ärzte in der Geschichte des National Health Service verantworten musste. Hunt sprach sich auch für ein mögliches zweites Referendum aus, eher aus populistischen Erwägungen. Wer ihm nur etwas länger zuhört, versteht jedenfalls, warum ihn der Radiomoderator James Naughtie vor Jahren live "Jeremy Cunt" nannte. Cunt heißt auf Deutsch, nun, Sie ahnen es. Man könnte es als Freud’schen abtun. Oder vielleicht doch eher als Freude. Vermutlich jedenfalls kein Zufall, dass Naughtie ein…

* Schotte ist. Der Stamm aus dem Norden verfolgt mit gewissem Amüsement, wie sich die südlichen Vettern in Westminster gegenseitig filetieren und dann auch noch gegen Island verlieren. Am Dienstag trat gut gelaunt wie meist der frühere First Minister Alex Salmond vor die Auslandspresse und erklärte, er sei zwar Schotte, verstehe aber von den Engländern offenkundig mehr als deren Führer, "es ist nie eine gute Idee, die Leute in eine Ecke zu drängen". Was dann passiert, hat die Nation vergangene Woche erlebt und spürt jetzt die Folgen. Randlos verdampft seitdem so viel Geld an den Märkten, dass man davon, wie Salmond höhnte, "locker 20 Jahre EU-Beitragszahlungen" hätte stemmen können. Hätte, wäre, könnte. Konjunktiv und Vergangenheit obendrein. Die Zukunft dagegen: Schottland will nun raus aus der Union. Ein zweites Referendum, prophezeite Salmond heiter, wäre in zwei Jahren vorstell- und auch umsetzbar.

Großbritanniens Aussichten - auf etwas muss Verlass sein

Bis dahin haben die Briten dann auch einen neuen Premier (oder vielleicht sogar schon zwei). Bis dahin hat auch Labour einen neuen Chef (oder vielleicht schon zwei). Bis dahin schließlich hat auch die englische Nationalmannschaft wieder einen neuen Trainer (oder vielleicht schon zwei oder drei). Ach, und in zwei Jahren ist wieder ein großes Fußballturnier, Weltmeisterschaft in Russland. Wir spulen kurz vor. Schottland wird unabhängig. Und England verliert im Achtelfinale.

Auf irgendwas muss in diesen Zeiten doch Verlass sein.

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