Am Wochenende warnte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz vor einer neuen großen Flüchtlingskrise. Die Situation in Italien mit tausenden über das Mittelmeer ankommenden Migranten sei "hochbrisant". Aus aktuellem Anlass bieten wir diesen Artikel deshalb noch einmal an. Der Text erschien am 5. Juli 2017.
Anfang 2016 hatte die EU ein Problem und Gerald Knaus hatte den Plan. Zu lange schon hatten die Europäer zugesehen, wie sich tausende Flüchtlinge in der Türkei in Schlauchboote setzten, wie sie über die Agäis schipperten, wie sie in Seenot gerieten, wie sie hilflos in den Fluten ertranken. Am anderen Ende des Meeres, in den großen Hallen in Brüssel, Paris, Rom und Berlin: ebenso Hilflosigkeit. Die EU hatte keinen Plan, wie sie dem täglichen Drama an ihren Küsten Herr werden solle. Den Plan hatte der europäische Think-Tank "Europäische Stabilitätsinitiative" (ESI). Dessen Vorsitzender Gerald Knaus gilt als sein Architekt. Das EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen trat am 20. März 2016 in Kraft. Seitdem kommen, bei aller berechtigten Kritik an den Aufnahmeinrichtungen in Griechenland, kaum noch Flüchtlinge über die Türkei nach Europa.
Nur 18 Monate später hat die EU wieder ein Problem, mit Menschen, die flüchten, sich in Boote setzen und vor den Toren Europas im Meer ertrinken. Die Mittelmeerroute. Seit dem Türkei-Abkommen und der Schließung der Balkan-Route ist Italien Hauptankunftsland für Flüchtende. "Es spricht alles dafür, dass 2017 das Jahr mit den meisten Ankommenden aus Afrika werden wird. Und mit den meisten Toten", sagt Gerald Knaus zum stern. Schon wieder droht der EU eine Flüchtlingskatastrophe. Schon wieder blickt sie planlos in die Runde. Gerald Knaus geht gar so weit, dass er sagt: "Die Art der Debatte, die in der EU geführt wird, zeigt, dass man sich nicht ernsthaft Gedanken darüber macht, wie man erreichen könnte, dass weniger Menschen kommen und weniger Menschen sterben." Die EU hat ein Problem, Knaus hat einen Plan. Sein "Rom-Plan", sagt er, ließe den Zustrom nach Italien geradezu "dramatisch einbrechen". Worte, die die EU jetzt, wo sie Italiens Hilferuf nur noch schwer ignorieren kann, eigentlich gerne hören dürfte.
Italiens Innenminister: "25 Schiffe. Keine Boote. Das sind Schiffe!"
Marco Minniti ist kein Mann, den man in Deutschland kennen muss. Er war Staatssekretär, Vizeminister, seit Dezember 2016 ist der 61-Jährige italienischer Innenminister. Als solcher tritt Minniti naturgemäß selten außerhalb der Staatsgrenzen in Erscheinung. Tut er es dann doch, ist es wichtig. Unmittelbar nach Amtsantritt war es Minniti, der der Presse bedächtig erklärte, die italienische Polizei habe Berlin-Attentäter Anis Amri in Sesto San Giovanni erschossen. Vergangene Woche stand der Italiener mit der Glatze wieder im Fokus der internationalen Medien. Doch dieses Mal war seine Stimme laut und hell, er beschwor geradezu die eigenen Worte, als er am Donnerstag bei einer Tagung in Mailand in den Raum voller Menschen rief: "Ich sag's noch einmal deutlich: 25 Schiffe. Keine Boote. Das sind Schiffe!"
Von den 25 Schiffen hatte der Minister vor zwei Tagen erfahren. Er sagte daraufhin seinen US-Trip ab, ließ das Flugzeug kurzerhand in Island umkehren. Minniti wollte nach Hause, er wurde gebraucht. 25 Schiffe von Nicht-Regierungsorganisationen, der EU-Mission "Sophia", der EU-Grenzschutzagentur Frontex, der Küstenwache, mit Ziel Italien. Die Flüchtlinge an Bord: tausende. Tausende, die hinzukommen sollten zu den Abertausenden, die dieses Jahr bereits an Italiens Küsten gebracht worden waren und irgendwo im Staatsgebiet registriert und untergebracht werden sollten. Insgesamt trafen seit Januar laut UN-Angaben mehr als 83.000 Bootsflüchtlinge ein, 12.000 allein in der vergangenen Woche. Gerettet aus internationalen Gewässern, von teils internationalen Organisationen, abgeladen allesamt in den Häfen einer einzigen Nation.
Gerald Knaus: Die bisherigen Strategien führen ins Nichts
"Untragbar" sagt Gerald Knaus, wenn er an Italien denkt. Untragbar das tägliche Drama, untragbar das täglich scheiternde Dublin-Abkommen, untragbar das Wegschauen der Union. Mehrfach war Knaus in den vergangenen Monaten in Rom, in Ministerien, bei Staatssekretären, im Parlament, beim Premier. So wie damals beim Türkei-Deal tingelt er auch jetzt durch Europa, mit dem Ziel seinen "Rom-Plan" an den Mann zu bringen. Seine Europäische Stabilitätsinitiative sei keine Beratung, verkaufe ihre Leistungen nicht. Vielmehr schreibe man Berichte und hoffe, dass Regierungen diese aufgreifen. Und das sollten sie auch, meint Knaus. Denn laut dem Österreicher hörten sich die Strategien zur Bewältigung des Flüchtlingszustroms, die einzelne EU-Länder bisher ins Feld führten - Lager in Nordafrika, um abgelehnte Antragsteller zurückzuführen oder mehr Unterstützung für die libysche Küstenwache, um Menschen vom Abfahren abzuhalten - im ersten Moment vielleicht gut an. Führten allerdings ins Nichts.
Der "Rom-Plan" sei da anders, meint Knaus. Darin können Staats- und Regierungschefs lesen, dass Nigerianer mit 39.000 Ankünften mit Abstand die größte Migrantengruppe in Italien stellten. 80 Prozent von ihnen werde im Asylverfahren allerdings keinerlei Schutzstatus zugesprochen. Sie müssen zurück. Oder: Sie müssten zurück. Denn Abschiebungen sind in allen EU-Ländern nur schwer umzusetzen, häufig geschieht also - nichts. Die abgelehnten Migranten bleiben, wo sie sind. Da. "Wer das russische Roulette auf dem Mittelmeer überlebt, ist de facto für Jahre in Europa", sagt Knaus. "Das hilft niemandem. Nicht der EU. Und auch nicht den Migranten, die zu einer Klasse ohne Rechte verkommen, die auf Feldern ausgebeutet werden oder in deutschen Städten Drogen verkaufen."
Gerald Knaus schlägt vor: Deal mit Herkunftsländern
Was man jetzt brauche, sei ein Deal, sagt der studierte Sozialwissenschaftler Knaus. Eigentlich müsse die EU schon längst mit Ländern verhandeln, die ihr aus dem Schlamassel helfen wollen. Die ihr helfen wollen, weil sie ein Interesse daran haben, weil sie selbst davon profitieren. Vor diesem Hintergrund schieden nordafrikanische Länder als Verhandlungspartner umgehend aus, die Staaten seien "weder in der Lage noch willens" der EU in der Flüchtlingskrise weiterzuhelfen, sagt Knaus. Den Herkunftsländern wie Nigeria, Senegal, Elfenbeinküste und Gambia aber müsse die EU schnellstens ein Angebot unterbreiten. Dieses könnte so aussehen: Ab Tag X nehmen die Herkunftsländer ihre Staatsbürger, die keinen Flüchtlingsstatus bekommen, nach einem schnellen, fairen Verfahren in Aufnahmezentren im südlichen Mittelmeer, sofort zurück. Jene, die als Flüchtlinge anerkannt werden, werden auf die EU-Länder verteilt. Jedes EU-Land, das nicht da mitmachen will, wird mit Verweis auf Schengen in die Pflicht genommen. Im Gegenzug bietet die EU den Vertriebenen, die im Herkunftsland geblieben sind, mehr humanitäre und finanzielle Hilfe und fixe Quoten für geordnete jährliche Zuwanderung für Studenten oder Arbeitnehmer, wie sie etwa die USA Kuba gewährten. "Das würde dazu führen, dass sich die meisten Menschen gar nicht auf den teuren und lebensgefährlichen Weg machen würden", ist sich Knaus sicher. Das Interesse am "Rom-Plan" sei da, sagt er.
Italien fordert Taten und bekommt Worte
Mehr aber auch nicht. Von konkreten Schritten, die auf einen längerfristigen Plan zur Lösung der Flüchtlingskrise schließen lassen, ist die EU weit entfernt. "Ich, der ich ein Herz für Europa habe", betonte Minister Minniti in Mailand, "ich wäre so stolz, wenn von all den Schiffen im Mittelmeer auch nur ein einziges einmal nicht in Italien, sondern an einem anderen europäischen Hafen anlegen würde." Nur einmal nicht zu uns, einmal woanders hin - welch' "außergewöhnliches Zeichen der Solidarität" das denn wäre, sagte Minniti und klang dabei etwas übertrieben. Der Satz steht im krassen Gegensatz zum "Wir schließen unsere Häfen für ausländische Flüchtlingsschiffe!", das Italien erst einen Tag zuvor an die EU gerichtet hatte. Doch Italien scheint es mittlerweile egal, wie es an sein Ziel gelangt, ob mit Zuckerbrot oder Peitsche oder mit beidem, Hauptsache, es kommt irgendwo an: Italien braucht dringend Zusagen, es braucht Unterstützung von den anderen EU-Ländern und vor allem braucht es konkrete Taten.
Österreich droht - und nimmt es dann zurück
Stattdessen reagierte die EU zunächst, wie sie es immer tut - mit Worten, die schon zu oft nur Worte geblieben sind. Umgehend sagte EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos mehr Geld und eine fairere Flüchtlingsverteilung auf die EU-Länder zu, die Innenminister Thomas de Maizière und Gérard Collomb bekundeten am Sonntag volle Solidarität.
Die Einigkeit sollte nicht lange währen: Am Tag nach dem Treffen der Innenminister in Paris erfuhr die italienischen Nachrichtenagentur Ansa, dass Frankreich und Spanien ihre Häfen für Flüchtlingsschiffe sperren wollten. Österreichs Verteidigungsminister Hans-Peter Doskozil sagte währenddessen der "Kronenzeitung", er erwarte "sehr zeitnah", dass Kontrollen an der Grenze zum italienischen Staatsgebiet aktiviert würden. Panzer stünden für den Brenner bereit, 750 Soldaten warteten. Am Mittwoch nahm Kanzler Christian Kern die Drohungen seines Ministers zurück: Er verteilte lobende Worte an Italien, sprach von einem Notfallplan, der derzeit nicht gebraucht würde, erst mal weiter wie bisher, erst mal abwarten. Das Mittelmeer wartet nicht.