Die Grenze der Menschlichkeit Die Szenen an Europas Außengrenzen sollten uns erschüttern – warum reagieren wir so abgestumpft?

Von Jan Rosenkranz
Flüchtlinge vor einem bewachten Stacheldrahtzaun
Menschen oder bedrohliche Masse? Migranten, streng bewacht von griechischen Polizisten. Nur ein Stacheldrahtzaun trennt sie noch von Europa
© Giannis Papanikos/AP/dpa
An Europas Außengrenzen spielen sich unerträgliche Szenen ab. Wir sind erschreckend gut darin, sie zu ertragen. Was hat uns bloß so verändert?

Für den Fall, dass es jemand noch nicht glauben will: Ja, 2020 ist nicht 2015. Und: 2015 darf sich nicht wiederholen. Das ist das politische Mantra dieser Tage, die Beschwörungsformel, gebetet, gepredigt und getwittert. Sie soll mahnen, beruhigen und, das auch, sie soll irgendwie dabei helfen, diese schrecklichen Bilder zu ertragen. Diese Bilder kommen nicht nur aus Aleppo oder Idlib, diese Bilder produziert Europa selbst. Im Übermaß:

2020 hindern wütende Europäer Flüchtlingsboote, an den Küsten griechischer Inseln zu landen, sie brüllen „Go back!“.

2020 wärmen sich halb nackte junge Männer an einem winzigen Feuer am türkischen Ufer des Grenzflusses Evros. Auf der griechischen Seite, erzählen sie, wurden sie verprügelt, ihrer Sachen beraubt und vertrieben.

2020 bringt ein Schiff der griechischen Küstenwache ein übervolles Schlauchboot fast zum Kentern, um es zur Umkehr zu bewegen. Ein Grenzschützer scheint mit einer Art Lanze auf das Boot einzustechen.

2020 schlafen Tausende Männer, Frauen, Kinder auf offenem Feld vor den Toren Europas. Versuchen vermummte Flüchtlinge, den Grenzzaun gewaltsam zu überwinden. Drängen Frontex-Polizisten sie mit Tränengas und Blendgranaten und mit Gummigeschossen zurück ins Niemandsland. Es soll Tote gegeben haben. Über der rauchgeschwängerten Szenerie hängt ein Schild: „Kalós irthate.“ Herzlich willkommen.

Einwohner der Insel Lesbos halten Flüchtlinge davon ab anzulegen
„Go back to Turkey!“: Auf der griechischen Insel Lesbos halten wütende Einwohner Flüchtlinge davon ab, mit ihrem Schlauchboot im Hafen von Thermis anzulegen
© AP

Es sind Bilder, die man gemeinhin „unerträglich“ nennt. Oder müssten wir, wenn wir ehrlich sind, zugeben, dass viele in dieser Gesellschaft heute denken: Schlimm, aber geht schon, 2015 darf sich eben nicht wiederholen?

Europäische Kriegsrethorik

Die Zeit der Willkommenskultur ist längst vorüber, sie währte kaum vier Monate, von September 2015, als Deutschland seine Grenzen eben nicht verschloss, bis zur Silvesternacht von Köln. Seitdem verengen sich unsere Herzen, geht es in der Politik ausschließlich um Begrenzung, Schritt für Schritt, bis hin zur Abschottung. 2020 ist Deutschland allenfalls bereit, ein paar Kinder aus lebensbedrohlicher Lage zu befreien.

Aus „Wir schaffen das“ ist „We will hold the line“ geworden. Der erste Satz mag naiv gewesen sein, für die einen Ansporn, für andere Provokation. Der zweite Satz aber ist: herzlos. We will hold the line. Wir halten die Stellung. Wir werden nicht weichen. Es ist der Satz, den EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach ihrem Besuch der griechisch-türkischen Grenzregion – oder müssen wir schon sagen: Front? – in die Mikrofone der Weltpresse sprach. Er ist Ausdruck einer Politik, in der militärische Logik jeden humanitären Anspruch verdrängt hat.

We will hold the line. Wir weichen nicht zurück. Aber wovor und vor wem? Vor den taktischen Spielchen des türkischen Präsidenten? Dem Ansturm feindlicher Invasoren? Oder dem Pochen hinter der Stirn, wenn sich das schlechte Gewissen meldet?

Dieser Satz stammt von derselben Frau, die 2015 warnte: Einen Zaun um Europa zu bauen würde „unsere wesentlichen Werte verraten“. Von Ursula von der Leyen, die den 20-jährigen Syrer Karim (damals hatten Flüchtlinge noch Namen) bei sich zu Hause aufnahm und sich mit ihm für die „Bild“ fotografieren ließ, die damals noch Buttons verteilte, auf denen „#refugeeswelcome“ und „Wir helfen“ stand.

Ursula von der Leyen ist nicht mehr Verteidigungsministerin der einstigen Willkommensrepublik Deutschland. Sie ist nun eine der obersten Repräsentanten eines Kontinents, der seine Schotten dicht hält. Und Griechenland, sagt sie, das sei nun „der Schild Europas“.

Der Migrationsforscher Gerald Knaus sagt dagegen: „Was wir hier sehen, ist eine Verrohung in der Europäischen Union, die dazu geführt hat, dass wir den Traum von Donald Trump an unseren Grenzen verwirklicht haben.“ Wer spricht denn in diesem Friedensnobelpreis-Europa noch von den Rechten, die Flüchtlinge haben, von Solidarität mit Männern, Frauen und Kindern, die womöglich Schutz brauchen? Sehen wir diese Menschen noch als Menschen? Oder sehen wir nur noch bedrohliche Massen?

Die gemeinsame Antwort der 27 EU- Innenminister, die sich eilig zu einer Sondersitzung trafen, lautet: „Illegale Grenzübertritte werden nicht toleriert.“ Wer es irgendwie über den Zaun nach Griechenland schafft, wird ohne weitere Prüfung direkt abgeschoben – und das, obwohl solche „Push-Backs“ rechtlich umstritten sind. Und das, obwohl Europa damit gegen das Recht auf Asyl, gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, gegen fundamentale Menschenrechte verstößt. Heißt „2015 darf sich nicht wiederholen“, dass statt humanitärer nun menschenverachtende Politik gemacht werden darf? Wir sind ganz gut im Ertragen geworden.

Ursula von der Leyen in einem Helikopter über der griechisch türkischen Grenzregion
„We will hold the line“: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen überfliegt die griechisch-türkische Grenzregion. Oder müssen wir schon sagen: die Front?
© imago images/ZUMA Wire

Halten wir die Bilder aus?

Das war einmal anders. Am frühen Abend des 13. September 2015, einem Sonntag, diskutiert im Berliner Lagezentrum des Bundesinnenministeriums eine Runde die Schließung der Grenze zu Österreich. Thomas de Maizère, der zuständige Minister, hat seine Staatssekretäre und die Führung der Bundespolizei zu sich gerufen. Die Pläne sind fertig, die Kanzlerin und die Koalitionsspitzen sind unterrichtet, um 18 Uhr kann die Aktion anlaufen, so beschreibt es der Journalist Robin Alexander, der den Tag für sein Buch „Die Getriebenen“ rekonstruiert hat.

Der Minister will die Szenarien noch einmal durchspielen: Was machen wir, wenn sich die Mi­granten nicht zurückweisen lassen?, fragt er in die Runde. Was geschieht, wenn 500 Flüchtlinge mit Kindern auf dem Arm auf die Bundespolizisten zulaufen? Halten wir die Bilder, die da im schlimmsten Fall entstehen können, aus?

De Maizière und Merkel, mit der er immer wieder telefoniert, zögern, sie sind unsicher. Die Grenze blieb offen. Seinerzeit war die Aufregung noch groß, als AfD-Chefin Frauke Petry forderte, Polizisten müssten beim Schutz der deutschen Grenzen notfalls „auch von der Schusswaffe Gebrauch machen“.

Die Abschottung erledigen längst andere für uns: türkische Soldaten an der syrischen Grenze, griechische Polizisten und europäische Frontex-Beamte an der Grenze zur Türkei. Wir haben unser Flüchtlingsproblem an die Peripherie Europas verlagert. Sachlich kühl verpackt in technokratische Begriffe wie „EU-Türkei-Abkommen“ und „Schutz der EU-Außengrenzen“. Wie unschön es aussieht, wenn diese Begriffe Wirklichkeit werden, das nehmen wir erst jetzt wieder zur Kenntnis. Erstaunt die einen, manche erschrocken, andere, auch das gehört zur Wahrheit, mit Wohlwollen.

„Ich will keinen Wettbewerb, wer Flüchtlinge am schlechtesten behandelt, damit keine mehr kommen“, sagte Angela Merkel auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise. Fünf Jahre später scheinen wir auf den griechischen Inseln eine Art Europameisterschaft in dieser Disziplin auszutragen. Seit Monaten erreichen uns auch von dort jene Bilder, die wir seit Monaten anscheinend doch ganz gut ertragen können. Sie stammen von Lesbos, Samos, Chios und Leros, aus den überfüllten Flüchtlingscamps, wo Zehntausende Menschen in primitiven Zelten vegetieren und manche schon den dritten Winter darauf warten, dass ihr Asylantrag bearbeitet wird.

Man hätte zumindest diese Geschundenen längst verteilen können, auf andere EU-Länder, wenigstens die unbegleiteten Kinder und Jugendlichen, wie Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn kürzlich vorschlug: zehn Kinder pro halbe Million Einwohner. Finnland und Frankreich wären dabei, auch Dutzende deutsche Städte und Gemeinden hatten sich bereit erklärt. Einen Antrag der Grünen, sofort 5000 besonders Schutzbedürftige aufzunehmen, lehnte noch vergangene Woche eine übergroße Mehrheit im Bundestag ab.

Im Jahr 2020 fallen humanitäre Gesten deutlich kleiner aus. Da muss es reichen, wenn sich die Groko-Spitzen nach langer Nachtsitzung gerade mal dazu durchringen, als Mitglied einer „Koalition der Willigen“ zumindest einen Teil von 1000 bis 1500 Minderjährigen aufzunehmen, die in griechischen Lagern leiden, vor allem Mädchen und kranke Kleinkinder. Als humanitär gilt heute schon, wenn Europa sich um jene Menschen kümmert, für die es seit Monaten, wenn nicht seit Jahren schon zuständig ist.

Für manche ist selbst das zu viel: „Ihr habt nichts gelernt, die Leute wollen keine Flüchtlinge“, ließ Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus CSU-Innenminister Horst Seehofer angeblich in einer Sitzung wissen. Er soll dabei geschrien haben. Wahrscheinlich hat er trotzdem recht. Wahrscheinlich denken inzwischen viele Menschen so wie Michael Grosse-Brömer: „Für einen, den wir nehmen würden, machen sich 100 weitere auf den Weg“, warnte der Union-Fraktions­geschäftsführer jüngst in unkaschiertem Zynismus. Konsequenterweise dürften wir demnach nie wieder einen einzigen Flüchtling aufnehmen, weil jeder einzelne das Zeug dazu hätte, eine neue „Flüchtlingswelle“ auszulösen. Kein Willkommen, keine Selfies, nicht mal Gnade.

„2020 ist nicht 2015!“, sprach auch Fraktionskollege Alexander Throm, „und es muss in alle Richtungen auch nur der Anschein vermieden werden, dass es so sein könnte.“ In alle Richtungen, immer entlang der Fluchtrouten, in jedes Durchgangs­camp und jede Schlepperhöhle und vor allem: in jedes deutsche Wohnzimmer. Nie wieder Chaos und Kontrollverlust, nie wieder Bilder endlos langer Karawanen!

Kinder im Flüchtlingslager Moria
Lebensgefährliche Zustände: Kinder im völlig überfüllten Lager Moria auf Lesbos. Viele Flüchtlinge warten Jahre darauf, dass ihr Asylverfahren vorangeht
© Louisa Gouliamaki/AFP

Dabei wäre Deutschland heute weit besser darauf vorbereitet, zumindest technisch, mit steigenden Flüchtlingszahlen umzugehen. Allein das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat sich mit inzwischen 1700 statt einst 250 Entscheidern zur „weltgrößten Asylbehörde“ aufgepumpt, wie Migrationsforscher Knaus sagt. Doch es geht nicht um Decken oder Fingerabdruckscanner, um logistische Kapazitäten und materielle Kosten – es ist der politische Preis, der den Verantwortlichen Sorge bereitet. Er könnte, so ihre Angst, schon bei der bloßen Aussicht auf neue Flüchtlingsströme fällig werden.

Er glaube nicht, „dass es noch mal halbwegs so glimpflich abläuft, wie es 2015 ja tatsächlich ­abgelaufen ist“, sagte SPD-Politrentner Sigmar Gabriel, damals Wirtschaftsminister und Parteichef, jetzt im Interview bei Markus Lanz.

Und so „glimpflich“ ist es schon beim letzten Mal nicht unbedingt verlaufen. Europa zerstritten, das Land gespalten, die Volksparteien geschreddert, mit den Folgen kämpft die Gesellschaft bis heute. In einigen Bundesländern braucht es inzwischen Fast-Allparteien-Bündnisse, um überhaupt noch Mehrheiten gegen die AfD zusammenzubringen. In ganz Europa sind Rechtspopulisten auf dem Vormarsch. Nicht nur in Ungarn und Italien, auch im liberalen Schweden. Und in französischen Umfragen liegt die rechtsextreme Marine Le Pen fast gleichauf mit Präsident Emmanuel Macron.

Europas nervöse Gesellschaften versetzen nicht nur die politische Klasse in Angst. Sorgen machen sich auch jene Menschen, die explizit keine „besorgten Bürger“ sein wollen, die solidarisch mit Flüchtlingen sind. Auch sie fragen sich inzwischen: Welche Bilder gäbe es wohl heute vom Münchner Hauptbahnhof, wenn die nächsten ersten Flüchtlinge kämen? Wie viele Menschen würden sie diesmal mit Fähnchen und Applaus begrüßen? Wie ­viele würden helfen, spenden, übersetzen? Und wie viele protestieren?

Europa zerstritten, Land gespalten

Es gibt eben auch all die anderen Bilder, von denen sich in den vergangenen Jahren so manche, Schicht für Schicht, vor unser Herz geschoben haben: Nordafrikaner auf der Kölner Domplatte. Der Lkw auf dem Berliner Weihnachtsmarkt. Der grölende Pegida-Pöbel, die geifernden AfD-Anhänger und der Streit mit Onkel Heinz auf der letzten Familienfeier.

Nur, soll Europa aus Angst vor den Rechten seine Ideale selbst begraben?

Sollen wir unaufhörlich Krieg führen gegen Menschen, die an unseren Grenzen um Zuflucht bitten?

Natürlich können „wir“ nicht „alle“ reinreinlassen – wer will das schon? „No border, no nation“ taugt vielleicht als utopische Parole auf sehr linken Demos, mehrheitsfähig wird das in diesem Europa niemals. In diesem Europa, erschaffen aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs, bricht schon jedes Mal das Chaos aus, wenn ein Rettungsschiff auf Malta oder Sizilien einen Hafen anlaufen will. Dieses Europa scheitert bis heute daran, Flüchtlinge auch nur halbwegs vernünftig auf die Mitgliedstaaten zu verteilen. Dieses Europa brauchte eine „Vision des pragmatischen Moralismus“, wie Migrationsforscher Knaus sagt – keine reine Lehre, aber verbindliche Regeln.

Wenn die Bundesregierung am 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, steht auch die Reform des EU-Asylrechts auf dem Programm. Der deutsche Entwurf enthält zwei Kernpunkte: eine „Vorprüfung“ der Asylanträge an den Außengrenzen – was im Prinzip alle für vernünftig halten. Und einen verbindlichen Verteilungsschlüssel („fair share“), ausgerichtet an Wirtschaftskraft und Bevölkerungsgröße – was eine wachsende Zahl von EU-Ländern seit Jahren grundsätzlich ablehnt.

Wahrscheinlich wird es fortan nur noch für eine „Koalition der Willigen“ reichen. Es wäre allemal besser, als sich einer Diktatur der Unwilligen zu beugen. Das müsste die wahre Grenze Europas sein. We will hold this line.

Erschienen in stern 12/2020

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