Arabische und jüdische Israelis In Gaza fallen Bomben – in Jerusalem eskaliert die Stimmung

Streit auf dem Yehuda-Markt in Jerusalem: Ein Verkäufer wird nach einem Tumult von der Polizei vom Markt eskortiert
Streit auf dem Yehuda-Markt in Jerusalem: Ein Verkäufer wird nach einem Tumult von der Polizei vom Markt eskortiert
© Yoray Liberman
In Jerusalem treffen die palästinensische und die jüdische Welt hart aufeinander. Die Stimmung spiegelt den Krieg in Gaza wider – und könnte jederzeit eskalieren.

Plötzlich rennen sie. Und wenn in Jerusalem jemand rennt, bedeutet das selten etwas Gutes. Ein Mann mit Adidas-T-Shirt und schwarzem Haar vorne, hinter ihm fünf Polizisten, zwei auf Pferden. Mitten durch den Yehuda-Markt in Jerusalem hetzen sie zwischen Ständen arabischer und jüdischer Händler hindurch, die Gewehre an einem Riemen über die Schulter gehängt.

Der verfolgte Mann vorne dreht sich um und schreit sie an. Er hat wenige Minute zuvor an einem Süßigkeiten-Marktstand für einen kleinen Tumult gesorgt, sich dort mit anderen Männern beschimpft – nun soll er vom Markt eskortiert werden. Aber er will nicht. Er wirft mit Schimpfwörtern um sich, die Polizisten reden auf ihn ein, wollen seinen Ausweis sehen. Auch das will er nicht.

Tumult auf dem Yehuda-Markt in Jerusalem: Berittene Polizisten verfolgen einen Mann, der für Aufruhr gesorgt hat
Tumult auf dem Yehuda-Markt in Jerusalem: Berittene Polizisten verfolgen einen Mann, der für Aufruhr gesorgt hat
© Yoray Liberman

Jerusalem brodelt in diesen Tagen, jeder Streit kann zu einem Handgemenge werden, in dem plötzlich ein Messer gezückt oder eine Kugel abgefeuert wird. In der Stadt, die Israel für sich als "ewige und unteilbare Hauptstadt" beansprucht und deren Ostteil die Palästinenser als Hauptstadt ihres unabhängigen Staates sehen, zeigt sich wie unter einem Brennglas die Wut, die das Land derzeit im Griff hält.

Die Wut jüdischer Israelis auf die Araber, die viele von ihnen als Unterstützer der Terroristen sehen, die Israel von der Landkarte radieren wollen.

Und die Wut vieler arabischer Bewohner Israels, die sich willkürlicher Gewalt ausgesetzt sehen – und die um ihre Familien und Freunde im bombardierten Gaza bangen.

Auf Yehuda-Markt in Jerusalem sind viele Stände geschlossen – aus Angst vor Gewalt
Auf Yehuda-Markt in Jerusalem sind viele Stände geschlossen – aus Angst vor Gewalt
© Yoray Liberman

Auf dem Yehuda-Markt in Jerusalem sind weniger als die Hälfte der Stände geöffnet. Viele Menschen bleiben zu Hause, wegen der Gewalt, die jede Minute droht auszubrechen. Ventilatoren unter den Blechdächern übertönen das sonst so laute, heute nur vereinzelte Rufen der Marktschreier: Bananen für 20 Schekel, Tüten mit Süßigkeiten für zehn.

Viele der geschlossenen Stände gehören Arabern, die sich dieser Tage nicht zu Arbeit trauen, erzählt ein Verkäufer. Aber auch jüdischen Verkäufern, die Angst vor Eskalationen haben. “Eigentlich ist auf dem Yehuda-Markt egal, wer du bist: Araber, Jude”, sagt Khalil, 32, schwarzes Shirt und gestutztes Haar. Er wirft seinem Kollegen, der Kippa trägt, lachend einen Handkuss zu, ruft "Eyyy, Moshe!". Der grinst zurück. “Wir reden hier nicht über Politik. Aber jetzt weiß man nicht, ob es bald ein Chaos gibt…” Er geht zurück zum Stand, einer der wenigen Kunden will bedient werden.

Von einem bevorstehenden Chaos oder Balagan, wie es hier auf Hebräisch genannt wird, sprechen hier viele.

Erst am Morgen des Tages hat ein Palästinenser bei einer Bahnhaltestelle in Jerusalem auf einen Soldaten eingestochen, ist dann zu einer Tankstelle gerannt, um weitere Opfer zu finden, und ist schließlich von Soldaten erschossen worden.

Polizei und Rettungsfahrzeuge stehen am Tatort, das Blut ist schon mit Wasser vom Asphalt gespült. Die Polizei befragt den Betreiber der Tankstelle. Nebenan ist ein Büro, darin arbeiten auch arabische Israelis. Die Soldaten fordern einen Jungen dazu auf, das Video des Vorfalls von seinem Handy zu löschen, solche Videos sollen nicht verbreitet werden.

Der Betreiber einer Tankstelle in Jerusalem schildert Passanten und Polizisten, wie ein Palästinenser mit einem Messer hereinstürmte und von Soldaten erschossen wurde. Zuvor hatte der Täter einen israelischen Soldaten mit einem Messer schwer verletzt.
Der Betreiber einer Tankstelle in Jerusalem schildert Passanten und Polizisten, wie ein Palästinenser mit einem Messer hereinstürmte und von Soldaten erschossen wurde. Zuvor hatte der Täter einen israelischen Soldaten mit einem Messer schwer verletzt.
© Yoray Liberman

Eine 24-Jährige, die im gleichen Büro arbeitet, hat alles mitbeobachtet und erzählt: “Ich habe den Mann erst schreien hören, als er zur Tankstelle gerannt ist. Und dann kamen Soldaten, 15 oder so, und haben ihn erschossen.” Sie habe sich während der Schüsse mit ihren Kolleginnen und Kollegen hinter den Schreibtischen versteckt.

Unterhält man sich länger mit der jungen Frau, sie möchte ihren Namen nicht veröffentlicht sehen, wird eines klar. Anschläge wie den auf den Soldaten verurteilt sie nicht. Sie sieht sich nicht als arabische Israelin, sondern als Palästinenserin. “Der Mann vorhin bei der Tankstelle wusste, dass er erschossen wird. Er wollte Palästina befreien.”

Sie erzählt davon, dass viele junge palästinensische Männer wie – so mutmaßt sie – auch der Attentäter gerade verzweifelt seien. Vor allem, sagt sie, seit man sehe, wie die Menschen in Gaza getötet werden und man nichts dagegen tun könne. Sie erzählt, wie Soldaten regelmäßig ihren Pass und Handy kontrollierten und sie Nachrichten über Gaza gar nicht erst schreibe oder im Nachhinein lösche, damit sie bei der nächsten Kontrolle nicht unter Verdacht gerate.

“Das hier soll wieder Palästina sein”, sagt sie.

Und wo sollen dann die jüdischen Israelis hin?

“Weg”, sagt sie, möchte aber nicht näher darauf eingehen. Jüdische Freunde und Bekannte habe sie nicht.

Spricht man sie auf das Massaker am 7. Oktober an, das die Hamas in Israel an Kindern, Frauen und Männern in der Nähe zu Gaza verübte und dessen Schrecken die Terroristen sogar selbst auf Video aufzeichneten – Enthauptungen, Vergewaltigungen, Verstümmelungen –, dann ist die Antwort: Das sei israelische Propaganda. Babys und Kinder habe die Hamas nie umgebracht. Dass Leichenfunde und Bildaufnahmen das Gegenteil beweisen, glaubt sie nicht. 

Den Anschlag generell betrachtet sie als einen Akt der Befreiung. Was dachten sie und ihr Umfeld, als sie von dem Angriff hörten? “Wir haben uns ein bisschen gefreut.”

Meinungen wie ihre gehören dieser Tage zu den radikalsten – doch sie spiegeln wider, wie ein Teil der Araber in Israel gerade auf die Situation blickt. Aber auch, wie das Empathievermögen sowohl arabischer als auch jüdisch-israelischer Menschen gerade an der Grenze der eigenen Gemeinschaft haltmacht. Es heißt: Wir oder sie. 

Gegen dieses Lagerdenken arbeitet seit Jahren der Friedensaktivist Aziz Abu Sarah an. Er lebt in Ost-Jerusalem, der stern erreicht ihn während der aktuellen Lage jedoch in den USA am Telefon. Abu Sarah hat mit jüdischen und arabischen Freunden das Reiseunternehmen “Mejdi tours” gegründet. Sie veranstalten inzwischen international bekannte Touren, in denen über beide Seiten des Konflikts gesprochen wird. Diese Touren gehen auch durch den arabischen und den jüdischen Teil Jerusalems. “Wenn wir es schaffen, in Friedenszeiten Freundschaften aufzubauen, dann halten manche davon vielleicht auch im Krieg.” Derzeit sei es so, dass viele nur Mitleid mit entweder palästinensischen oder israelischen Opfern hätten. Mit “ihrer eigenen Seite”. Dabei müsse man sich gegenseitig die Trauer zugestehen und auch selbst mit den anderen mitfühlen. 

Aziz Abu Sarah kennt die arabische Gemeinschaft gut, vor allem die in Ost-Jerusalem. Er sagt, die Ablehnung etwa der jungen Frau gegenüber jüdisch-israelischem Leid habe mehrere Ursachen. “Viele Menschen in diesem Land haben keine palästinensischen Freunde oder keine jüdischen Freunde. Wir sind seit so vielen Jahren voneinander getrennt, dass viele keinerlei Verbindungen haben und sich gegenseitig als Feinde sehen, sodass das Leben der Menschen auf der anderen Seite keine Rolle spielt.”

Angst, den Schmerz der anderen anzuerkennen

Außerdem spiele gerade Angst bei vielen arabischen Menschen in Israel und der Westbank eine Rolle: “Man hat Angst, den Schmerz der Israelis anzuerkennen. Wenn man das tut, könnte es so interpretiert werden, dass man die israelische Reaktion in Gaza unterstützt. Wenn sie also sagt: 'Ja, die Hamas hat etwas Schreckliches getan', dann befürchtet sie vielleicht, dass dies so verstanden wird, dass Israel tun kann, was es will.”

Außerdem gebe es Menschen, die noch immer in einer Art Fantasiewelt lebten, sowohl jüdische Israelis als auch muslimische Araber. “Manche Israelis sagen mir: Tausende von Zivilisten wurden im Gazastreifen getötet, aber, wissen Sie, das war nur ein Versehen. Unsere Soldaten töten niemals Zivilisten.” Bei vielen Palästinensern sei es dasselbe. “Sie wollen wirklich glauben, dass die Hamas nie einen Zivilisten verletzen, nie ein Kind töten würde, weil sie denken, dass Israel so etwas tue. Wir tun so etwas nicht.” Da könnten noch so viele Fotos kommen, sie würde den Beweisen nicht trauen. 

Aziz Abu Sarah war gerade auf Reisen, als das Massaker der Hamas und die israelischen Schläge gegen Gaza begannen. Er ist seitdem nicht zurück ins Land gekehrt: “Es ist nicht sicher für mich”, sagt er. Viele Araber in Israel, so auch seine Familie, blieben gerade zu Hause und gingen nicht einmal zur Arbeit, aus Angst vor Gewalt. Selbst die Wohnhäuser von Bekannten würden durchsucht, ohne Angabe, nach was eigentlich gesucht werde, genauso die Handys und die Nachrichten, die man damit geschrieben oder gelesen habe. Er sagt, das bringe gerade viele Palästinenser auf einen Gedanken, der schon länger in den Köpfen existiere: Die Palästinensische Autonomiebehörde habe versagt. 

Sie sei nicht in der Lage, die Menschen zu schützen. Dafür ist sie zuständig – das Vertrauen vieler Palästinenser in die Behörde unter Mahmoud Abbas ist aber schon vor Zeit verloren gegangen. 

“Ich halte es für gut möglich, dass die Palästinensische Autonomiebehörde ihre Macht verliert”, sagt Aziz Abu Sarah. Das könne gefährlich werden – denn wer ist die Alternative für die Fatah-Partei im Westjordanland? Manche mutmaßen: die Terrororganisation Hamas, die schon im Gazastreifen an der Macht ist.

Abu Sarah sagt: “Es ist sehr gefährlich, wenn man keine Hoffnung hat. Wenn die Menschen keine politische Vision haben, wird die Gewalt zunehmen.” Die Offensive Israels gegen den Gazastreifen, um die Hamas zu zerstören, sorgt unter Arabern in Israel nicht nur für Angst. Sondern auch für den Ruf nach einer stärkeren Vertretung. Und manchen, wie etwa dem Messerattentäter in Jerusalem, bringe es die Rache offen zum Vorschein.

Aziz Abu Sarah hat sowohl Freunde im bombardierten Gaza als auch unter den Toten und Geiseln aus Israel. Er trauert um sie alle. Sieht er sein Lebenswerk, den Wunsch, nach Verständigung zwischen den Bevölkerungsgruppen unwiederbringlich zerstört?

“Nein, ich habe Hoffnung”, sagt er. Er erzählt von einem Freund, der an einem Tag auf der Beerdigung eines engen Vertrauten war, der am 7. Oktober von der Hamas getötet wurde – am nächsten Tag habe dieser Freund Menschen im Westjordanland geholfen. So etwas mache ihm Mut. “Für die nächste Zeit glaube ich nicht, dass ein friedvolles Miteinanderleben möglich sein wird. Es gibt gerade so viel Hass, Wut und Fehlinformation.”

Aber die Hoffnung auf Frieden habe er noch. “Denn was wäre die Alternative?”