Live im Staats-TV Ehemaliger Oberst übt im russischen Fernsehen überraschende Kritik an der Ukraine-Invasion

Michail Chodarenok
Der pensionierte russische Oberst Michail Chodarenok am Montag bei TV Russia 1
© Screenshot/Twitter / stern
Unerhörte Kritik am Ukraine-Krieg im russischen Staatsfernsehen: "Die Situation wird sich für uns verschlechtern", sagt ein Oberst a.D. zur besten Sendezeit, und: "Wir sind isoliert, die Welt ist gegen uns". Die Moderatorin versucht ihn vergeblich zurückzuhalten.

Für das russische Staatsfernsehen hat bereits der Einsatz von Atombomben gegen Europa Nachrichtenwert: Zur besten Sendezeit sind Grafiken zu sehen auf denen beinahe stolz die Flugdauer von Interkontinentalraketen präsentiert wird. Von Kaliningrad nach Berlin sind es zum Beispiel 106 Sekunden, nach London 202. Solche Schauer-Szenarien dienen nicht nur der reinen Information, sie sollen auch deutlich machen, wer der Feind ist und wie wenig er den eigenen Kräften entgegenzusetzen hat oder hätte. Rossija 1 ist einer dieser stumpfen Abspielkanäle für die Kreml-Propaganda, manchmal aber läuft die Show nicht ganz nach Drehbuch. 

"Ukraine kämpft bis zum letzten Mann"

Am Montagmittag trat dort Oberst a.D. Michail Chodarenok auf und sprach mit Moderatorin Olga Skabejewa über die "militärische Spezialoperation", wie der Krieg gegen die Ukraine in Russland genannt wird. Was er zu sagen hatte, war äußerst ungewöhnlich für das Staats-TV, denn es widersprach ungefähr allen offiziellen Jubelmeldungen über den angeblich so "planmäßigen" Kriegsverlauf: "Die Situation wird sich für uns eindeutig verschlechtern", sagte er und lieferte auch einen Grund. Denn die Moral der ukrainische Armee sei enorm, so wie ihr Verlangen, ihr Vaterland zu verteidigen, "bis zum letzten Mann", wie der pensionierte Militär sagte.

Als eines der größten Probleme der russischen Armee macht er die politische Situation aus: "Wir sind völlig isoliert, die ganze Welt ist gegen uns, auch, wenn wir das nicht zugeben wollen", sagte Chodarenok in der einstündigen Sendung. Eine Situation, in der uns eine Koalition aus 42 Staaten gegenüberstehe und unsere Ressourcen, sowohl militärisch-politisch als auch militärisch-technisch begrenzt seien, könne man nicht als planmäßig bezeichnen, so der frühere Oberst weiter. Seine Worte waren auch eine deutliche Kritik an der Staatsführung.

Die britische BBC schreibt zu dem außergewöhnlichen Auftritt: "Die anderen Studiogäste schwiegen. Moderatorin Olga Skabejewa, die den Kreml üblicherweise glühend und lautstark verteidigt, wurde eigentümlich kleinlaut." Ein paar Mal aber fährt sie dem renitenten Studiogast dennoch über den Mund und versucht dessen Botschaften wieder einzufangen. Aber vergeblich, Chodarenok bleibt bei seiner Haltung. Die Reaktionen könnten auch damit zu tun haben, dass der Militärexperte eine für die russische Regierung eher unschöne Glaubwürdigkeit besitzt. Denn bereits im Februar hatte er in einem Aufsatz vor exakt dem Kriegsverlauf gewarnt hat, der nun eingetreten ist.

"Übertriebener Optimismus, Stimmung ignoriert"

"Jetzt wird über einen 'mächtigen Feuerschlag Russlands' gesprochen, der 'praktisch alle Überwachungs- und Kommunikationssysteme und Artillerie' auslöschen könnte. Abgesehen davon, dass es aus militärischer Sicht so etwas nicht gibt, kann niemand die Vernichtung von Streitkräften eines ganzen Staates erwarten. Das wäre schlichtweg übertriebener Optimismus. Auch zu behaupten, dass niemand in der Ukraine das Regime verteidigen werde, bedeutet Lage und Stimmung in der dortigen Bevölkerung völlig zu ignorieren. Niemand in der Ukraine wird die russische Armee mit Brot, Salz und Blumen begrüßen", schrieb Chodarenok damals im Militärteil der "Unabhängigen Zeitung".

Ob der kritische Auftritt des Oberst a.D. ein "PR-Unfall" war oder einen bestimmten Zweck verfolgt, etwa die Bevölkerung auf unerfreulichere Zeiten vorzubereiten, ist unklar. Aber nicht ganz ungewöhnlich. So gibt es immer wieder Experten, die nicht mit in den Chor der staatlichen Propaganda einstimmen. Teilweise, um Ausgewogenheit in der Berichterstattung vorzugaukeln, teilweise aber auch um offenkundige Probleme zu thematisieren: "Sie sind Teil der Show. Putin muss den Russen eine plausible Erklärung dafür liefern, dass ihre Armee seit 80 Tagen kämpft, aber keine Erfolge verkünden kann", so der frühere Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew, Sergej Sumlenny, in der "Bild".

Quellen: TV Russia 1, BBC, "Unabhängige Zeitung", "Welt", "Bild"