In Istanbul und Ankara hat sich die Lage am Samstagmorgen nach einem gewaltsamen Polizeieinsatz gegen Demonstranten beruhigt. Polizisten blieben jedoch auf ihren Posten. Die Demonstranten hatten den Rücktritt von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan gefordert. In Istanbul setzte die Polizei Wasserwerfer, Gummigeschosse und Tränengas gegen tausende Regierungsgegner ein. Die Demonstranten hatten sich um den zentralen Taksim-Platz versammelt und riefen Parolen wie "Regierung tritt zurück" und "Korruption ist überall".
Die Zusammenstöße breiteten sich bis in die Nebenstraßen des Taksim-Platzes aus. Einige Protestierende beschossen die Sicherheitskräfte mit Feuerwerk. Mindestens zwei Demonstranten wurden einem Fotografen der Nachrichtenagentur AFP zufolge verletzt. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft gab es mehr als 30 Festnahmen.
Auch in der Hauptstadt Ankara kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Polizisten und Regierungsgegnern. Zuvor hatten sich etwa 700 Demonstranten im Ausgehviertel Kizilay versammelt.
Belastung für EU-Beitrittsverhandlungen
Der für die EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara zuständige EU-Kommissar Stefan Füle verfolgt die Entwicklung in der Türkei "mit zunehmender Besorgnis". In einer Erklärung vom Freitag in Brüssel erinnerte Füle die Türkei an ihre Pflichten als Beitrittskandidat und forderte die Regierung auf, "alle nötigen Schritte zu unternehmen, damit die Vorwürfe von Rechtsverletzungen ohne Benachteiligung oder Bevorzugung transparent und unparteiisch aufgeklärt werden".
Die von der Regierung beschlossenen Änderungen der Polizeiarbeit hätten "die Unabhängigkeit der Justiz und deren Handlungsfähigkeit untergraben", heißt es in der Erklärung. Er begrüße, dass der Staatsrat die Maßnahmen ausgesetzt habe und hoffe auf eine baldige endgültige Entscheidung. Füle bekräftigte, die Justiz müsse unabhängig arbeiten können. Er sei über die Amtsenthebungen einer größeren Zahl von Polizisten besorgt.
Türkische Lira auf Rekordtief
Die türkische Regierung wird nach den Massenprotesten im Sommer seit einigen Tagen von einem Korruptionsskandal erschüttert. Von einer ersten Verhaftungswelle vor anderthalb Wochen waren dutzende Geschäftsleute und Politiker aus Erdogans Entourage betroffen. Drei Minister traten zurück, Erdogan besetzte zehn der 26 Kabinettsposten um. Bei den Ermittlungen geht es unter anderem darum, ob gegen Schmiergeld illegale Baugenehmigungen erteilt und Handelssanktionen gegen den Iran unterlaufen wurden. Erdogan hat die Ermittlungen als "dreckige Operation" gegen seine Regierung mit Hintermännern im In- und Ausland bezeichnet.
Der Korruptionsskandal belastet ebenfalls das zuletzt ohnehin angeschlagene Vertrauen der Finanzmärkte in das aufstrebende Schwellenland. Die türkische Lira rutschte am Freitag im Handel mit dem US-Dollar auf ein Rekordtief. Neben der Währung gerieten auch türkische Staatsanleihen und der Aktienmarkt des Landes massiv unter Verkaufsdruck, nachdem sich ausländische Investoren teilweise aus dem Markt verabschiedet hatten.