Wahl in der Türkei Gefährdet Erdogans Sieg die türkische Demokratie?

Mit so einem klaren Sieg der AKP hatte niemand gerechnet. Künftig kann die Partei des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdogan allein regieren. Welche Auswirkungen hat das auf das Land? Und wie fallen die Reaktionen aus?

Wie genau haben die Türken gewählt?

Bei der Parlamentswahl in der Türkei haben die Menschen vor allem überraschend deutlich für die regierende AKP gestimmt, die Partei von Staatschef Recep Tayyip Erdogan. Nach Auszählung von rund 98 Prozent aller abgebebenen Stimmen kommt das islamisch-konservative Bündnis auf 49,4 Prozent. Damit hat die Partei die absolute Mehrheit zurückerobert, die sie bei der letzten Wahl im Juni verloren hatte. In der Nationalversammlung wird sie voraussichtlich 316 der 550 Abgeordneten stellen. Das neue Votum wurde nötig, weil Koalitionsgespräche gescheitert waren. Die größte Oppositionspartei, die sozialdemokratische CHP, kommt auf 25,4 Prozent, die nationalistische MHP auf zwölf Prozent. Die pro-kurdische HDP liegt mit 10,6 Prozent über der Zehnprozenthürde. Besonders gut schneidet die AKP bei den türkischen Wählern in Deutschland ab: 59,7 Prozent der in der Bundesrepublik abgegebenen Stimmen sind auf die Konservativen entfallen, berichtet die staatsnahe Nachrichtenagentur Anadolu. Zweitstärkste Kraft bei den Deutsch-Türken ist die kurdische HDP.

Wieso ist das Wahlergebnis überraschend?

Noch am Wahltag schrieb die Zeitung "Cumhuriyet" auf der Titelseite vom "letzten Tag des Sultanats". Sie bezog sich zwar auf die Entmachtung des Sultans durch das türkische Parlament auf den Tag genau 93 Jahre zuvor, spielte aber auch auf den Anfang vom Ende von Staatspräsident Erdogan an. Wie die meisten Beobachter ging auch das regierungskritische Blatt davon aus, dass die AKP die absolute Mehrheit verfehlen würde. Nach ihrer Ansicht hatte es Erdogan mit seiner Politik der Spaltung übertrieben. Doch allen Vorhersagen der Meinungsforscher zum Trotz hat seine Regierungspartei einen klaren Sieg eingefahren. Das offizielle Endergebnis soll erst in zwölf Tagen präsentiert werden, bis dahin will die Wahlkommission mögliche Einsprüche und Beschwerden prüfen. Noch gibt es keine Hinweise auf Manipulationen, doch der europäische Grünen-Chef Reinhard Bütikofer mahnte bereits an, dass das Wahlergebnis von der EU sorgfältig unter die Lupe genommen werden müsse. "Man wird genau hingucken müssen, inwieweit das in seinen Dimensionen doch überraschende Ergebnis einfach das Ergebnis einer Fehlprognose aller dortigen Demoskopen gewesen ist oder möglicherweise auch das Ergebnis von Manipulationen", sagte er.

Wie fallen die Reaktionen auf die Wahl aus?

  • Als einer der ersten Institutionen hat die EU auf die Wahl reagiert: Die hohe Wahlbeteiligung untermauere, dass das türkische Volk die demokratischen Prozesse unterstütze, sagte die Außenbeauftragte Federica Mogherini knapp und sachlich.
  • Die Bundesregierung rief die künftige türkische Regierung zu einem Kurs der Versöhnung auf. Nun komme es darauf an, die vielen Herausforderungen "im Geist der nationalen Einheit und der Kompromiss-Bereitschaft" anzugehen, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Er verwies unter anderem auf den Konflikt mit den Kurden sowie die innenpolitische Polarisierung während des Wahlkampfes.
  • Weniger auf dem Wahlsieg der AKP als auf den Einzug der HDP reagierte der deutsche Grünen-Chef Cem Özdemir: "HDP trotz Widrigkeiten wieder drin. Glückwunsch!", twitterte er am Sonntagabend.
  • Die Bundestagsabgeordnete von der Linken, Sevim Dagdelen, bewertete den Ausgang der Wahlen negativ: "Das ist ein schwarzer Tag für die Menschen in der Türkei und in der Region. Erdogans Strategie der Spannung, um die absolute Mehrheit der AKP wiederherzustellen, scheint aufgegangen zu sein".
  • Die Wirtschaft dagegen versetzte das Ergebnis ist Entzückung: So kletterte die türkische Lira um 4,4 Prozent auf ihren höchsten Kurs seit sieben Jahren. Auch der wichtigste Aktienindex an der Istanbuler Börse legte deutlich zu. Der sogenannte BIST stieg kurz nach Handelsbeginn zwischenzeitlich um 5,4 Prozent auf 83.735 Punkte.
  • Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan selbst forderte nach dem Wahlsieg seiner AKP die weltweite Anerkennung des Ergebnisses. Dies sollte von der ganzen Welt respektiert werden, sagte er an Tag nach der Wahl.

Was plant Erdogan nun?

Totgesagte leben länger. Präsident Erdogan ist der beste Beweis für diese Floskel. Nach den schweren Verlusten seiner AKP im Juni galt er als angeschlagen. Mit dem spektakulären Wahlsieg ist diese Scharte wieder ausgewetzt - und Erdogan sitzt fester im Sattel denn je. Trotz der Gräben in seinem Land, die das Staatsoberhaupt in den vergangenen Wochen noch weiter vertieft hat, etwa durch den Kampf gegen die Kurden und die Einschüchterung der Opposition. Kritiker werfen Erdogan vor, das Chaos absichtlich geschürt um haben, um sich am Ende als der starke Mann zu präsentieren, der einzig in der Lage ist, wieder für Ruhe zu sorgen. Sicher ist: Die Befugnisse die Erdogan als Präsident hat, oder besser: nicht hat, sollen durch eine Verfassungsreform ausgeweitet werden. Nichts weniger als die Einführung eines Präsidialsystems plant er, doch dafür benötigt er eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament. Vom Balkon des AKP-Parteigebäudes aus forderte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu nach dem Wahlsieg eine Verfassungsreform: "Ich rufe alle Parteien, die in das Parlament einziehen auf, sich auf eine neue zivile nationale Verfassung zu verständigen."

Gefährdet das neue System die türkische Demokratie?

Nach den Verlusten seiner AKP im Juni gab Recep Tayyip Erdogan mehr oder weniger direkt zu Protokoll, die Türken hätten schlicht falsch gewählt - was einiges über sein Selbstverständnis aussagt. Als Sultan, als unangefochtene moralische und religiöse Autorität, sieht sich der Präsident gerne und so wird er, vor allem von seinen Kritikern, auch oft bezeichnet – es ist allerdings nicht als Lob gemeint. Obwohl sich Erdogan nicht direkt in den Wahlkampf eingemischt hat, haben die vergangenen Wochen gezeigt, wie seine Politik in Zukunft aussehen könnte: Weil ihm das Ergebnis der letzten Wahl nicht gepasst hat, wurde einfach noch einmal gewählt. Weil einige Medien zu kritisch über die AKP berichtet hatten, wurden sie kurzerhand geschlossen und kamen wenige Tage später plötzlich mit Jubelarien über die Regierung um die Ecke. Weil das Verhältnis zu den Kurden sich verschlechtert, ist wieder ein Krieg aufgeflammt, von dem alle dachten, dass er vorbei sei. Kurzum: Erdogan gebiert sich immer ungenierter als Autokrat - was die Mehrheit der Türken offenbar nicht zu stören scheint. Der Chef der (linksliberalen) HDP, Selahattin Demirtas, wertet Erdogans Plan schlicht als Versuch, in der Türkei eine "konstitutionelle Diktatur" zu errichten.

mit DPA/AFP/Reuters

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