Russland beschuldigt die Ukraine, den Einsatz einer sogenannten "schmutzigen Bombe" mit radioaktivem Material auf eigenem Territorium zu planen, um die Regierung von Präsident Wladimir Putin zu diskreditieren. Obwohl Kiew und seine westlichen Unterstützer die Anschuldigungen vehement zurückgewiesen haben, will Moskau damit vor den UN-Sicherheitsrat gehen. Eine entsprechende Aussprache des mächtigsten UN-Gremiums hinter verschlossenen Türen solle am Dienstag stattfinden, hieß es aus Diplomatenkreisen in New York.
Kiew forderte unterdessen von sich aus eine Kontrolle durch die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) an, um die Vorwürfe zu widerlegen. Experten der Organisation würden in den kommenden Tagen zwei ukrainische Atomanlagen untersuchen, die von Russland erwähnt worden seien, kündigte IAEA-Chef Rafael Grossi am Montagabend an. Diese Standorte würden aber ohnehin regelmäßig von der IAEA inspiziert, einer davon zuletzt im September. "Dort wurden keine unbekannten nuklearen Tätigkeiten oder Materialien entdeckt", sagte Grossi.
Was genau wirft Russland der Ukraine vor?
Ohne irgendwelche Beweise zu liefern, behauptet Russland, wissenschaftliche Einrichtungen in der Ukraine würden an einer "schmutzigen Bombe" arbeiten um diese auf eigenem Gebiet zur Explosion bringen. "Nach unseren Informationen haben zwei ukrainische Institutionen spezifische Instruktionen zur Herstellung der sogenannten 'schmutzigen Bombe' erhalten", sagte Generalleutnant Igor Kirillow, der in der russischen Armee für radioaktive, biologische und chemische Substanzen zuständig ist, am Montag. "Ihre Arbeit ist in die abschließende Phase getreten." Zuvor hatte bereits Außenminister Sergej Lawrow erklärt, es gebe "konkrete Informationen zu den Instituten in der Ukraine, die über entsprechende Technologien verfügen, solch eine "schmutzige Bombe" zu bauen".
Nach Darstellung des russischen Verteidigungsministeriums will Kiew die angebliche "schmutzige Bombe" zum Zwecke einer Provokation im eigenen Land detonieren lassen. "Das Ziel dieser Provokation ist es, Russland des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen im ukrainischen Operationsgebiet zu beschuldigen und damit eine starke antirussische Kampagne in der Welt zu starten, die das Vertrauen in Moskau untergraben soll", sagte Kirillow.
Was ist eine "schmutzige Bombe" überhaupt?
Bei einer "schmutzigen Bombe" handelt es sich um einen konventionellen Sprengkörper der mit radioaktivem Material kombiniert ist. Er muss kein hochangereichertes Uran enthalten, wie es in einer Atombombe verwendet wird. Stattdessen können zum Beispiel Nuklearstoffe aus medizinischen Geräten, Kernkraftwerken oder Forschungslaboratorien als atomare Bestandteile dienen. Dadurch sind "schmutzige Bomben" wesentlich billiger und schneller herzustellen als Atomwaffen. Außerdem können sie zum Beispiel auf dem Rücksitz oder der Ladefläche eines Fahrzeugs transportiert werden.
Wenn eine "schmutzige Bombe" explodiert, kommt es – anders als bei einer Atombombe – nicht zu einer nuklearen Kettenreaktion. Doch ihr radioaktives Material wird durch die Detonation in der Umgebung verteilt.
Wie gefährlich ist eine "schmutzige Bombe"?
Die Zahl der Opfer und das Ausmaß der Schäden durch eine "schmutzige Bombe" hängen von vielen Faktoren ab. Dazu gehören die Art und Menge des konventionellen Sprengstoffs und der freigesetzten radioaktiven Stoffe, die das Ausmaß der Explosion respektive der darauf folgenden Strahlenbelastung bestimmen.
Einen großen Einfluss haben auch die Wetterbedingungen – insbesondere der Wind – zum Zeitpunkt der Detonation. Damit sich das radioaktive Material in einer "schmutzigen Bombe" über das Zielgebiet verteilen kann, muss es in Pulverform zerkleinert werden. Wenn die Partikel jedoch zu fein sind oder durch starken Wind verweht werden, streuen sie zu weit, um großen Schaden anzurichten.
Das US-Heimatschutzministerium hält es für unwahrscheinlich, dass eine "schmutzige Bombe" eine so hohe Strahlendosis abgeben könnte, "dass sie bei einer großen Anzahl von Menschen unmittelbare gesundheitliche Auswirkungen oder Todesfälle verursachen würde". Um eine "schmutzige Bombe" herzustellen, die tödliche Strahlungsdosen abgeben könnte, wären große Mengen an Abschirmungsmaterial aus Blei oder Stahl erforderlich, damit das radioaktive Material seine Hersteller während des Baus und Transportes nicht tötet, heißt es laut dem US-Sender CNN von der Gesundheitsbehörde des US-Bundesstaates Texas. Die Verwendung einer solchen Isolierung würde jedoch dazu führen, dass die Bombe sperrig, schwer zu transportieren und einzusetzen wäre. Zudem könnte sich die Strahlung nur begrenzt ausbreiten.
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Entscheidend für die gesundheitlichen Auswirkungen ist nach Angaben von Scott Roecker, Vizepräsident für das Programm zur Sicherung von Kernmaterial bei der Nuclear Threat Initiative, einer gemeinnützigen Organisation mit Sitz in Washington, um welche Art von Strahlung es sich handelt, wie lange man ihr ausgesetzt ist und ob sie über die Haut, oral oder über die Atemluft aufgenommen wurde.
Schon das bloße verlassen der Explosionsgegend kann laut dem US-Heimatschutzministerium Erkrankungen wirksam Vorbeugen. "Selbst wenn man sich nur eine kurze Strecke vom Ort der Detonation entfernt, kann dies einen erheblichen Schutz bieten, da die Dosisleistung mit zunehmender Entfernung von der Quelle drastisch abnimmt", zitiert CNN die Behörde. Außerdem sollten die Menschen Nase und Mund bedecken, um die Aufnahme von Strahlung zu vermeiden, sich in ein Haus begeben, um einer Staubwolke zu entgehen, ihre Kleidung in einer Plastiktüte entsorgen und dann ihre Haut vorsichtig waschen, um Verunreinigungen zu entfernen.

Nach Ansicht von Roecker haben "schmutzige Bomben" vor allem indirekte Auswirkungen. Sie seien "eher eine psychologische Waffe. Wenn man versucht, Menschen zu verängstigen, einzuschüchtern, dann setzt man eine solche Waffe ein", zitiert die Nachrichtenagentur Associated Press den Experten. "Schmutzige Bomben" würden daher eher auf eine Verwendung in städtischen Gebieten abzielen und seien nicht für das Schlachtfeld gedacht.
Auch die IAEA warnt, die durch "schmutzige Bomben" verursachten Verstrahlungen könnten selbst in kleinen Mengen große psychologische und wirtschaftliche Auswirkungen haben. Auch Landstriche, die nur schwach verstrahlt wären, könnten nach Auffassung der Experten über Jahre hinweg die Gefahr von Krebserkrankungen für die Bevölkerung erhöhen. Die Atomenergiebehörde in Wien kontrolliert regelmäßig zivile Nuklearanlagen in der Ukraine und auf der ganzen Welt, um sicherzustellen, dass kein spaltbares Material für militärische Zwecke missbraucht wird.
Wurde schon einmal eine "schmutzige Bombe" eingesetzt?
Bislang wurden noch keine Anschläge mit einer "schmutzigen Bombe" erfolgreich durchgeführt. Es gab dem britischen Sender BBC zufolge jedoch mehrere Versuche:
- 1996 legten tschetschenische Rebellen im Moskauer Ismailowo-Park eine mit Dynamit und Cäsium-137 bestückte Bombe. Das Cäsium war aus einem Gerät zur Krebsbehandlung gewonnen worden. Die russischen Sicherheitsdienste entdeckten die Bombe und entschärften sie.
- 1998 entdeckte und entschärfte der tschetschenische Geheimdienst in der Nähe einer Eisenbahnlinie eine "schmutzige Bombe".
- 2002 wurde Jose Padilla, ein US-Bürger mit Kontakten zur Terrororganisation al Kaida, in Chicago wegen des Verdachts festgenommen, einen Anschlag mit einer "schmutzigen Bombe" geplant zu haben. Er wurde später zu 21 Jahren Haft verurteilt.
- 2004 wurde Dhiren Barot, ein britischer Staatsbürger und al-Kaida-Mitglied, in London verhaftet und anschließend zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt, weil er Terroranschläge mit einer "schmutzigen Bombe" in den USA und in Großbritannien geplant hatte. Allerdings hatten weder Padilla noch Barot vor ihrer Verhaftung mit dem Bau ihrer Bomben begonnen.
Was könnte hinter Russlands Vorwurf gegen die Ukraine stecken?
Die US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) mutmaßt, der Kreml habe "wahrscheinlich versucht, die westliche Militärhilfe für die Ukraine zu verlangsamen oder auszusetzen und möglicherweise das Nato-Bündnis durch Panikmache zu schwächen".
Es gibt auch Spekulationen, dass Russland eine "False Flag"-Operation plane, also dass die Streitkräfte von Präsident Wladimir Putin selbst eine "schmutzige Bombe" in der Ukraine zünden und die ukrainischen Streitkräfte dafür verantwortlich machen wollen. "Man wirft dem Gegner die Vorbereitung eines Waffeneinsatzes vor, um ihn anschließend selbst auszuführen", beschrieb der Sicherheitsexperte Oliver Meier vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg dem Redaktionsnetzwerk Deutschland eine mögliche Moskauer Strategie. Ob dieses Szenario tatsächlich eintrete, sei aber ungewiss.
Angesichts des Schadens, den Russland mit einer "schmutzigen Bombe" bei seinen eigenen Truppen und in dem von ihm kontrollierten Gebiet anrichten könnte, zweifeln viele Militäranalysten daran. Auch das ISW meint: "Es ist unwahrscheinlich, dass der Kreml unter falscher Flagge einen unmittelbar bevorstehenden Anschlag mit einer 'schmutzigen Bombe' vorbereitet."
Quellen: CNN, BBC, Redaktionsnetzwerk Deutschland, Associated Press