Im Ringen um einen friedlichen Machtwechsel in der Ukraine nach der umstrittenen Präsidentenwahl hofft die Opposition auf Hilfe aus Deutschland. Bundeskanzler Gerhard Schröder solle mit seinen guten Kontakten auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin einwirken, "den Griff um die Ukraine zu lockern", sagte der Oppositionspolitiker und frühere Außenminister Boris Tarasjuk am Sonntag in Kiew vor Journalisten. Vor Beratungen des Obersten Gerichts über die Wahl an diesem Montag verstärkten beide Lager noch einmal den Druck.
Fischer: Keine übertriebene Zurückhaltung gegenüber Putin
Bundesaußenminister Joschka Fischer hat Vorwürfe zurückgewiesen, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder und er dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Menschenrechtsfragen mit zu großer politischer Zurückhaltung begegnen. "Das sind Vorwürfe ohne jede Faktengrundlage", erklärte Fischer gegenüber "Bild am Sonntag". "Weder der Kanzler noch ich halten sich zurück. Ganz im Gegenteil: Wir sprechen Menschenrechtsfragen stets und schnörkellos an."
Mit Nachdruck verteidigte der Außenminister den Kanzler, den mit Putin eine Duz-Freundschaft verbindet. "Zwischen Staatsmännern geht es nicht nur um persönliche, sondern um politische Beziehungen. Dem Bundeskanzler wird wegen seinem Verhältnis zu Putin wirklich Unrecht getan."
Der Außenminister gab den Kritikern zu bedenken: "Die Deutschen, Europa und die Welt brauchen Russland als strategischen Partner. Niemand sollte unterschätzen, was es bedeutet, dass Präsident Putin sein Land Richtung Westen geöffnet hat." Andererseits brauche Russland für seine Modernisierung auch den Westen: "Die politischen Mittel von gestern und vorgestern", appellierte Fischer, "sollten der Vergangenheit angehören."
DPA
Fronten in der Ukraine weiter verhärtet
Im ukrainischen Machtkampf scheinen sich die Fronten nach zwischenzeitlichen Entspannungssignalen wieder zu verhärten: Oppositionskandidat Viktor Juschtschenko forderte zehntausende seiner Anhänger auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz auf, den Druck der Straße bis zur Wiederholung der Präsidentenwahl aufrecht zu erhalten. Gefolgsleute des offiziellen Wahlsiegers Viktor Janukowitsch drohten derweil im einer Abspaltung der Ost-Ukraine. Ein für Sonntag vereinbartes Treffen beider Seiten kam nicht zu Stande.
Juschtschenko erinnerte seine Anhänger abermals an die Demonstrationen in Georgien vor einem Jahr, die nach drei Wochen den Rücktritt von Präsident Eduard Schewardnadse erreichten. "Ich fordere euch auf: Bleibt bis zum Schluss", rief er der Menge zu. Der scheidende Präsident Leonid Kutschma bezeichnete die Blockaden von Regierungsgebäuden seitens der Opposition als grobe Rechtsverletzung. Nur ein Kompromiss biete den Ausweg, "unvorhersehbare Konsequenzen zu vermeiden".
Juschtschenko fordert eine Wiederholung der Wahl am 12. Dezember. Rückendeckung erhielt er am Samstag vom Parlament: 255 von 429 anwesenden Abgeordneten erklärten das bisher verkündete offizielle Ergebnis für ungültig. Das Votum ist rechtlich nicht bindend, hat aber Signalwirkung. Die Zentrale Wahlkommission erklärte, sie werde sich nicht gegen eine Wiederholung der Abstimmung stellen.
Am Freitag waren Vertreter beider Seiten erstmals am Runden Tisch zusammengekommen und stimmten der Bildung einer multilateralen Arbeitsgruppe zu. Nach deren erster Zusammenkunft am Samstag sagte der Oppositionspolitiker Iwan Pljuschtsch laut Interfax, beide Seiten hätten den Willen zu einer konstruktiven Kompromisslösung gezeigt. Nach Angaben des Janukowitsch-Vertrauten Stepan Hawrysch kam ein Gespräch allerdings gar nicht zu Stande, weil man sich zu sehr über das Parlamentsvotum geärgert habe. Eine für Sonntag anberaumtes Treffen wurde abgesagt.
Janukowitschs Partei erörtert Autonomie der Ostukraine
Janukowitschs Partei der Regionen hielt unterdessen in Sewerodonezk eine Versammlung mit 3.500 Delegierten ab, um über einen Autonomiestatus für fast den gesamten Osten der Ukraine zu beraten, sollte Juschtschenko doch noch Präsident werden. Janukowitsch und der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow nahmen an der Sitzung teil. Luschkow bezeichnete im russischen Fernsehen die Proteste in Kiew als "Hexensabbat in Orange". Orange ist die Farbe des Juschtschenko-Lagers.
Der Chef der Region Donezk, Boris Kolesnikow sagte, unter einem Präsidenten Juschtschenko werde eine eigene "eigene südöstliche Republik" in einem Bundesstaat Ukraine ausgerufen. Juschtschenko sagte dazu, das oppositionelle Nationale Rettungskomitee beabsichtige, Strafanzeigen gegen die Gouverneure von Charkiw, Donezk und Luhansk zu erstatten.
Der niederländische Außenminister und amtierende EU-Ratspräsident Ben Bot sprach sich für eine Wahlwiederholung noch in diesem Jahr aus. Die ukrainische Nachrichtenagentur Unian zitierte das russische Außenministerium mit der Aussage, dass auch Moskau einem möglichen neuen Wahldurchgang positiv gegenüberstehe. Der russische Präsident Wladimir Putin hat sich bislang hinter Janukowitsch gestellt.
Als politisches Signal forderte das Parlament am Samstag eine Annullierung der Stichwahl vom 21. November und stellte die Weichen in Richtung einer Wiederholung der Wahl. Hinter den Kulissen liefen Verhandlungen beider Seiten über eine politische Lösung an.
Fischer fordert Putin auf, Machtwechsel zu akzeptieren
Deutschlands Stimme habe in Europa Gewicht, sagte Tarasjuk. "Wir würden uns wünschen, dass Deutschland starken Einfluss nimmt in diesen entscheidenden Stunden für die ukrainische Geschichte." Putin hatte sich in der Ukraine offen hinter den an Russland ausgerichteten Janukowitsch gestellt. Außenminister Joschka Fischer forderte den russischen Staatschef auf, einen möglichen Machtwechsel in Kiew zu akzeptieren.
Oberstes Gericht berät wegen möglichen Wahlbetrugs
Janukowitsch forderte ein Durchgreifen gegen die Demonstranten, die seit Tagen in Kiew die wichtigsten Regierungsgebäude blockiert halten. "Irgendwann muss entschieden Nein gesagt werden", verlangte er. "Demokratische Staaten reagieren auf so etwas in harter Form", sagte auch der amtierende Präsident Leonid Kutschma bei einer Sitzung mit den Leitern des Sicherheitsbehörden. Allerdings teilte dieser "Rat für nationale Sicherheit und Verteidigung" zum Ende der Sitzung mit, dass die Blockade nicht gewaltsam aufgehoben werden solle.
"Wenn wir mitbekommen, dass die Staatsmacht eine gewaltsame Lösung vorbereitet, werden wir alle Gespräche sofort abbrechen", sagte Juschtschenko vor tausenden Anhängern in Kiew. Die Blockade der Regierungsgebäude sei Teil eines legitimen Protests. "Die Zeit wird kommen, wenn sie von selbst die Schlüssel übergeben", erklärt er. Bei der volksfestähnlichen Kundgebung auf dem Unabhängigkeitsplatz im Kiewer Zentrum wechselten sich am Sonntag politische Reden und Auftritte populärer Rockmusiker ab.
Das Oberste Gericht der Ukraine will an diesem Montag (11.00 Uhr Ortszeit, 10.00 Uhr MEZ) über Beschwerden der Opposition wegen Wahlbetrugs beraten. Bei der Stichwahl am 21. November seien "grobe Verstöße gegen das Wahlgesetz" vorgekommen, erklärte das Parlament, die Oberste Rada, am Samstag. Die Deputierten sprachen der Zentralen Wahlkommission das Misstrauen aus und forderten eine Annullierung des Wahlgangs. Der rechtliche Weg zu einer möglichen Wiederholung der Stichwahl war jedoch völlig unklar. Die Rada habe eine politische Wertung getroffen, die aber nicht bindend sei, sagte Kutschma.
Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt strömten die Menschen am Sonntagmorgen zum Platz der Unabhängigkeit. Dort werden im Tagesverlauf wieder Hunderttausende zur Unterstützung des Oppositionsführers Viktor Juschtschenko erwartet. Die einwöchigen Massenproteste gegen das Ergebnis der Präsidentenwahl haben die Ukraine nach den Worten von Ministerpräsident Viktor Janukowitsch an den Rand einer Katastrophe geführt. Zugleich forderte er seine Anhänger am Sonntag auf, jedes Blutvergießen zu vermeiden.
"Als Regierungschef sage ich heute: Wir stehen am Rande einer Katastrophe. Es ist noch ein Schritt bis zum Abgrund", sagte Janukowitsch vor Regionalvertretern der östlichen Regionen des Landes, wo er und seine pro-russische Politik stark unterstützt werden. Trotz internationaler Kritik an Unregelmäßigkeiten ist Janukowitsch zum Sieger der Stichwahl am vergangenen Sonntag erklärt worden. Das ukrainische Parlament unterstützt allerdings inzwischen die Forderung der Opposition nach einer Annullierung des Ergebnisses.
Die Wahl hat die jahrhundertealte Spaltung des Landes in einen russisch-sprachigen Osten und einen ukrainisch sprechenden Westen deutlich gemacht. Der Osten erwirtschaftet mit seiner Chemie-, Stahl- und Kohleindustrie einen großen Teil des ukrainischen Wachstums und unterstützt Janukowitschs Politik einer engen Bindung an den russischen Nachbarn. Im Westen herrschen kleinere Betriebe und Landwirtschaft vor und die Menschen sind wie Oppositionskandidat Viktor Juschtschenko an einer stärkeren Orientierung an Europa interessiert.