Mit der Ankündigung eines teilweisen Truppenabzugs hat Russland am Dienstag überraschend ein Zeichen der Entspannung in der Ukraine-Krise gesetzt. Bei einem Treffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte Präsident Wladimir Putin anschließend in Moskau, dass Russland keinen neuen Krieg in Europa wolle. "Dazu, ob wir das wollen oder nicht: Natürlich nicht!", sagte Putin im Kreml nach dem dreistündigen Gespräch. Scholz verwies auf einen großen Spielraum für Verhandlungen. "Die diplomatischen Möglichkeiten sind bei weitem nicht ausgeschöpft", sagte er.
So kommentiert die deutsche Presse das Treffen in Moskau:
"Augsburger Allgemeine": "Russland hat einen Teilabzug seiner Truppen von den ukrainischen Grenzen angekündigt. Die Regierung in Kiew frohlockt bereits. Die Invasionsgefahr sei abgewendet. Die Diplomatie habe gesiegt. Doch die russische Armee wird bei ihrem gegenwärtigen Mobilisierungsgrad auch in den kommenden Wochen jederzeit in der Lage sein, den Ring um die Ukraine wieder zuzuziehen. Erst recht ist diplomatisch noch lange nichts gewonnen. Im Gegenteil: Durch die russische Eskalationspolitik ist der Problemberg nicht nur im Osten Europas deutlich größer geworden. Die gesamte kontinentale Sicherheitsarchitektur steht zur Disposition."
"Frankfurter Rundschau": "Ein paar russische Soldaten weniger an der Grenze zur Ukraine und das Gesprächsangebot des russischen Präsidenten Wladimir Putin an den Westen lösen weder den Ukraine-Konflikt noch den Streit mit den USA und den Europäern. Doch den Moskauer Signalen könnten langwierige und komplizierte Verhandlungen folgen, die die angespannte Situation beruhigen oder gar zu einer europäischen Sicherheitsarchitektur führen, mit der alle Beteiligten leben können. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg. Verloren gegangenes Vertrauen muss wieder entstehen. Zudem müssen die strittigen Punkte nach und nach abgearbeitet werden. Dabei muss gelten, dass Sicherheitsfragen in Europa nur mit und nicht gegen Russland, aber auch nicht gegen die Ukraine und die anderen osteuropäischen Staaten geklärt werden können. Vor allem Putin wird erst noch beweisen müssen, ob er zu Kompromissen fähig ist oder seinem bewährten Vorgehen treu bleibt und den Konflikt anheizt, wenn es gerade nicht nach seinem Willen läuft."
"Frankfurter Allgemeine Zeitung": "(...) Scholz machte mit seinen Äußerungen zum Truppenaufmarsch an den Grenzen zur Ukraine, zu Memorial und Nawalnyj deutlich, dass er gegenüber Putin das offene Wort nicht scheut. (...) Dem Konzept der strategischen Ambiguität huldigte am Dienstag im Kreml eher der Hausherr, der es darin schon lange zur Meisterschaft gebracht hat. (...) Er will den Weg der Ukraine in Richtung Westen ein für allemal blockieren. Das dämpft auch die Hoffnung, mit der Wiederbelebung des Minsker Prozesses komme man aus der Krise. Die Zusagen, die Scholz aus Kiew mitbrachte, wurden von der Duma mit der Aufforderung an Putin quittiert, die aufständischen Gebiete im Donbass als unabhängige Staaten anzuerkennen. (...) Der russische Präsident macht nach wie vor nicht den Eindruck, als fühle er sich in diesem Konflikt unterlegen. (...)"
"Neue Presse" (Coburg): "Putin sprach in der Pressekonferenz mit Scholz einmal mehr von einem drohenden Völkermord, verübt von ukrainischen Soldaten. Angesichts solcher Äußerungen bleibt es wenig realistisch, dass der Kreml aufhört, das Nachbarland zu destabilisieren."
"Scholz widersprach Putin, Putin widersprach Scholz"
"Ludwigsburger Kreiszeitung": "Die Pressekonferenz der beiden Staatenlenker war ein richtiger Polit-Krimi. Scholz widersprach Putin, Putin widersprach Scholz. Und doch gab es ab und an auch den Ansatz eines Lächelns um die Mundwinkel der beiden Politiker. Eine Entschärfung der Krise war es zwar nicht. Aber auch keine Zuspitzung. Scholz kann mit dem Gefühl zurückfliegen, dass er Hoffnung in den Konflikt gebracht hat. Es wird weiter geredet, der Minsker Prozess soll endlich mit Leben gefüllt werden. Da wird es sehr auf das diplomatische Geschick der deutschen und französischen Seite ankommen. Scholz hat seinen Teil gestern geleistet."
"Neue Osnabrücker Zeitung": "Es scheint bei Putin die Einsicht zu wachsen, zwischen die Mitglieder der EU und der Nato keinen Keil treiben zu können. Die Politik des Kreml hat EU- und Nato-Staaten näher zusammenrücken lassen. Die wirtschaftlichen Kollateralschäden eines Waffengangs in der Ukraine wären für alle Seiten hoch. Hat sich Putin verzockt? Nur weil ein paar Soldaten ihre Stellungen räumen, ist die Gefahr eines neuen Krieges in Mittelosteuropa längst nicht gebannt. Auch Moskau beherrscht die Dressur seiner vermeintlichen Gegner mittels Zuckerbrot und Peitsche. Der Westen sollte sich nicht in falscher Sicherheit wiegen. Die eigentliche Arbeit an Europas Sicherheitsarchitektur beginnt jetzt erst."
"Mitteldeutsche Zeitung" (Halle): "Scholz hat in Moskau einiges dafür getan, die Beziehungen lebensfähig zu halten. Er hat klare Worte zur Lage der Menschenrechte in Russland gefunden, ohne zu provozieren. Er hat aber auch das Verbindende betont. Bei den Vier-Augen-Gesprächen war niemand dabei. Aber der gemeinsame Auftritt mit Scholz vor der Presse machte Hoffnung, dass der Kanzler die außenpolitischen Fußstapfen seiner Vorgängerin Angela Merkel ausfüllen kann."
"Die Glocke" (Oelde): "Kremlchef Wladimir Putin ist die Palme ganz nach oben geklettert, und nun ist die große Frage, wie er wieder hinunter kommt.` Der deutsche Militärhistoriker Prof. Sönke Neitzel hat dieses einprägsame Sprachbild benutzt, um die bisherige russische Eskalation im Ukraine-Konflikt pointiert zu beschreiben. Wenn man den russischen Ankündigungen eines Teilabzugs seiner Truppen aus dem Grenzbereich zur Ukraine glauben darf, dann ist der russische Präsident gestern die Palme ein kleines Stück hinuntergerutscht. Und das wäre nach Tagen, in denen Europa am Rande eines Krieges stand, ein wirklich gutes Zeichen. Es wäre ein Sieg der Diplomatie, des ausdauernden Verhandelns, zu dem auch Kanzler Olaf Scholz mit seinem Antrittsbesuch einen Beitrag geleistet hat."
"OM-Medien" (Cloppenburg / Vechta): "Wenn Russland einen Teil seiner Truppen von der ukrainischen Grenze abzieht, mag das nach einer Entspannung im Konflikt mit Kiew und dem Westen aussehen. Doch: Die Situation bleibt hochgradig explosiv. Die Truppenstärke des Aufmarsches bedeutet weiterhin eine eklatante Bedrohung. Unklar ist zudem, ob es sich bei der Ankündigung Moskaus, die Zahl seiner Soldaten in der Region zu mindern, nicht nur um eine Taktik handelt. Um eine Taktik, mit der Kreml-Chef Wladimir Putin sich als Mann des guten Willens inszenieren kann. Zudem wäre er in der Lage, bei ausbleibenden Fortschritten in den Gesprächen weiter die Opferrolle Russlands zu betonen – ein zentraler Teil seiner Propaganda."
"Badische Zeitung" (Freiburg): "Nun aber hat Wladimir Putin beschlossen, seine Ziele vorerst auf andere Weise zu verfolgen. Die Gründe kennt nur er, doch ein Krieg wäre auch für Russland zur Katastrophe geworden. Von seinen Forderungen, das hat Putin nach dem Treffen mit Olaf Scholz klargestellt, rückt er indes nicht ab. Auch wenn der Kremlchef seine Position durch das Schüren von Kriegsangst vielfach eher geschwächt als gestärkt hat: Der Westen täte gut daran, sich trotz oft unvereinbarer Positionen auf ernsthafte Verhandlungen einzulassen, wie sie der Bundeskanzler in Moskau versprochen hat. Sonst ist die nächste Krise nicht weit. Druckmittel bleiben Putin genug, von einer neuen Eskalation im Ukraine-Konflikt über die Anerkennung der Donbass-Republiken bis zur Stationierung von Atomraketen einen Minutenflug von Warschau und Berlin entfernt."
"Leipziger Volkszeitung": "Gleichzeitig weiß Putin, dass es kurzfristig der gekränkten russischen Seele guttun kann, wenn er so tut, als befänden wir uns in Zeiten sowjetischer Weltmacht. Und dass er die volle Aufmerksamkeit des Westens bekommt, wenn er signalisiert, jederzeit zur Regelverletzung bereit zu sein. Damit ließe sich einigermaßen umgehen, wenn man sicher sein könnte, dass Putin am Ende im wahrsten Sinn des Wortes nicht die Grenze überschreitet. Das kann man aber nicht."
"Fuldaer Zeitung": "Wichtig ist, dass die seit Wochen intensiven diplomatischen Bemühungen der Nato- und EU-Staaten endlich Erfolge zeitigen. Daran hat Scholz zweifellos einen Anteil. Doch der Abzug von ein paar russischen Armeeverbänden ist lediglich als Symbol zu verstehen. Putin gibt hier ein bisschen nach, weil er weiß, dass der Westen nicht über den Ukraine-Konflikt verhandelt, wenn dem Land die Pistole auf die Brust gesetzt ist. Die Ukraine könnte von ihrer Lage zwischen Ost und West profitieren, indem sie mit beiden Seiten gute politische und wirtschaftliche Beziehungen pflegt. Dafür müsste sie sich aber zur Neutralität verpflichten – und Russland besetzte Gebiete räumen."