Gebiet in der Südukraine Die nächste "Volksrepublik"? Wie Cherson von Russland geschluckt wird

Eine Frau mit ukrainischer Fahne während einer Demonstration gegen die russische Besatzung
Cherson, Ukraine. Eine Frau mit ukrainischer Fahne steht während einer Demonstration gegen die russische Besatzung vor russischen Truppen auf der Straße. (Foto vom 19. März 2022)
© Olexandr Chornyi/AP / DPA
In Cherson lässt sich beobachten, wie Russland die Identität von Stadt und Einwohnern zunehmend tilgen will. Wird hier die nächste gewaltsame Grenzziehung in der Ukraine vollzogen?

Russlands Präsident Wladimir Putin lässt auf seinem Feldzug gegen die Ukraine offenkundig die erste Grenzziehung vollziehen. In den Köpfen, dem Portemonnaie, im Stadtbild, der Administrative – und womöglich auch bald offiziell, sofern man das sagen kann.

Mehr als zwei Monate dauert der Angriffskrieg an. Cherson war die erste ukrainische Stadt, die von der russischen Armee nach der Invasion am 24. Februar erobert und vollständig eingenommen wurde. Das soll so bleiben: "Die Frage einer Rückkehr des Gebiets Cherson in die nazistische Ukraine ist ausgeschlossen", sagte Kirill Stremoussow, der von Moskau als Machthaber eingesetzt wurde, am Donnerstag der russischen Staatsagentur Ria Nowosti. "Das ist unmöglich."

Arbeitet Russland an einer "Volksrepublik Cherson"?

Nach Dafürhalten der ukrainischen Führung wollen die Besatzer, die sich als "Befreier" einer von "Nazis" regierten Ukraine verstehen, in absehbarer Zeit ein Referendum über die Ausrufung einer "Volksrepublik Cherson" organisieren, sozusagen nach dem Vorbild der abtrünnigen Gebiete Donez und Luhansk. Spekulationen über die Vorbereitung einer solchen Volksabstimmung – wie auch einst auf der 2014 von Russland annektierten Halbinsel Krim –, hatten sich zuletzt verstärkt. Unter anderem sollen in der Region Flugblätter mit entsprechenden Aufrufen aufgetaucht sein.

Der Sekretär des ukrainischen Sicherheitsrates, Olexij Danilow, bezeichnete die mutmaßlichen Pläne als "juristisch und international bedeutungslos". Die Volksabstimmung sei ein "Klassiker", mit der Russland seine Aktionen legalisieren wolle – jedenfalls aus russischer Sicht.

Dass Russland das südukrainische Gebiet Cherson dauerhaft aus dem Staat herauslösen wolle, weist Stremoussow von der moskautreuen Verwaltung nicht explizit zurück. Es solle keine Abstimmung über den Status der Region geben, sagte er lediglich. Von entsprechenden Plänen will Russlands stellvertretender Außenminister Andrej Rudenko zumindest "nichts gehört" haben, wie er vorigen Montag bei einer Pressekonferenz auf eine entsprechende Nachfrage antwortete. Ein klares Dementi klingt anders. Das Vorgehen der russischen Besatzer spricht aber ohnehin seine eigene Sprache.

Am Sonntag führten die Invasoren den russischen Rubel als Währung ein, der die ukrainische Hrywna nach einer viermonatigen Übergangsphase vollständig ablösen soll. Zur gleichen Zeit sollen sämtliche Mobilfunk- und Internetverbindungen in der Region Cherson ausgefallen sein. Das ukrainische Innenministerium warf den russischen Invasoren vor, die Leitungen gekappt zu haben, um die Bewohner von der Außenwelt abzuschneiden – und damit von unabhängigen, wahrheitsgemäßen Informationen über den Krieg.

Cherson, Ukraine. Während einer Kundgebung gegen die russische Besatzung auf dem Svobody-Platz (Freiheitsplatz) in am 7. März 2022 rufen Menschen den Soldaten der russischen Armee entgegen.
Cherson, Ukraine. Während einer Kundgebung gegen die russische Besatzung auf dem Svobody-Platz (Freiheitsplatz) in am 7. März 2022 rufen Menschen den Soldaten der russischen Armee entgegen.
© Olexandr Chornyi/AP / DPA

Stattdessen läuft russisches Staatsfernsehen, wie mehrere Medien berichteten, das Zuschauer zuverlässig über die russische "Spezialoperation" unterrichtet – wie der Krieg genannt werden muss –, und die Ammenmärchen des Kreml verbreitet.

Für das britische Verteidigungsministerium steht außer Frage, dass Russland großen Wert auf langfristigen Einfluss in Cherson legt. Sowohl die Ankündigung der moskautreuen Verwaltung, eine Rückkehr zu ukrainischer Kontrolle sei unmöglich, als auch die Einführung des Rubels deuteten "wahrscheinlich auf Russlands Absicht hin, langfristig starken politischen und wirtschaftlichen Einfluss in Cherson auszuüben", hieß es in einer Mitteilung von Sonntag.

Die britische Regierung betonte darin auch die strategische Bedeutung Chersons. Eine dauerhafte Kontrolle über die Stadt und ihre Verkehrsverbindungen werde die russischen Fähigkeiten erhöhen, den Vorstoß im Norden und Westen der Ukraine aufrechtzuerhalten sowie die Kontrolle über die Krim abzusichern, hieß es. Cherson liegt etwa zwei Autostunden nördlich der Schwarzmeer-Halbinsel und ist ein möglicher Knotenpunkt einer Landbrücke in den Donbass, also zu den bereits besetzten "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk.

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"Wir sind die Geiseln der Russen"

Der Widerstand der Bürgerinnen und Bürger von Cherson ist offenbar ungebrochen, immer wieder komme es zu proukrainischen Aktionen, doch reißen die Berichte von Augenzeugen und Medien über ein zunehmend repressives Umfeld nicht ab.

Der Buchstabe "Z" – das Symbol der russischen Invasion – werde auf Gebäude gekritzelt, die russische Flagge wehe auf Regierungsgebäuden, laut einer örtlichen Nachrichtenagentur sei kürzlich eine Lenin-Statue wiederaufgestellt worden. Derweil würden russische Soldaten mit gepanzerten Fahrzeugen durch die Innenstadt fahren.

Cherson, Ukraine. Menschen mit ukrainischen Fahnen gehen während einer Kundgebung gegen die russische Besatzung am 20. März 2022 auf Lastwagen der russischen Streitkräfte zu.
Cherson, Ukraine. Menschen mit ukrainischen Fahnen gehen während einer Kundgebung gegen die russische Besatzung am 20. März 2022 auf Lastwagen der russischen Streitkräfte zu.
© Olexandr Chornyi/AP / DPA

"Wir sind die Geiseln der Russen", zitierte "Zeit Online" Chersons Bürgermeister Ihor Kolychajew, der sich seit der Besatzung weigert, mit den Russen zu kooperieren. Am vorherigen Montag hätten bewaffnete Russen die Stadtverwaltung besetzt, Kolychajew vertrieben und die Schlösser und Wachleute ausgetauscht. Am Tag darauf hätten sie einen neuen Bürgermeister und Gouverneur eingesetzt.

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Dem Bericht zufolge sollen in einem ehemaligen Untersuchungsgefängnis im Stadtzentrum Hunderte Personen festgehalten werden, darunter Lokalpolitiker und Aktivisten, die auf russischen Listen stünden. Von den einst rund 300.000 Einwohnern haben lokalen Angaben zufolge fast die Hälfte Cherson verlassen.

Die Routen in sicherere Teile der Ukraine seien nun vollständig gesperrt, wie die BBC am Sonntag unter Berufung auf mehrere Personen berichtete. Demnach führe die einzige verfügbare Straße über die Krim – in russisches Territorium.

Quellen:  "New York Times", BBC, "Zeit Online", Deutschlandfunk, Redaktionsnetzwerk Deutschland, mit Material der Nachrichtenagentur DPA

fs