Sie heißen Julia Filippowa, Alexander Lutsenko oder Maria Galeewa – und sie werden immer mehr.
Dienstag, 1. März: mehr als 2100.
Sonntag, 6. März: mehr als 4400.
Montag, 7. März: mehr als 5140.
Die Zahlen und Namen summieren sich. Stand heute, am Dienstag, 8. März, zählt das russische Bürgerrechtsportal OWD-Info insgesamt mehr als 13.500 Menschen, die seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine bei den kremlkritischen Protesten in Russland festgenommen worden seien.
Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen, allein: Die Nichtregierungsorganisation selbst weist darauf hin, dass ihre Dokumentation der Festgenommenen unvollständig sein könnte – und es womöglich noch viel mehr sein könnten.
Russland ist dabei, im Angriffskrieg eigene Fakten zu schaffen und eine neue Wirklichkeit ins Werk zu setzen – das zeigt sich nicht nur durch Verhaftungen auf verbotenen Anti-Kriegs-Demonstrationen. Neue Gesetze stellen "Fake News" über das eigene Militär unter Strafe, der "Krieg" wird aus dem Sprachgebrauch getilgt, unabhängige Medien verschwinden, soziale Netzwerke werden gesperrt, offenbar eine Art Staatsinternet an den Start gebracht.
Die Meinungsfreiheit in Russland wird massiv beschnitten. Schon wieder.
Die Tabuwörter
Schon lange leidet die freie Meinungsäußerung in Russland. "Wer widerspricht, ist ein Agent" – so formulierte es die Menschenrechtsorganisation Amnesty International schon 2014. Seitdem wurde Russlands sogenanntes Gesetz über "ausländische Agenten" abermals verschärft, das Journalisten, Aktivisten und einfache Bürger mundtot machen kann – auch wenn der Kreml eine Zensur bestreitet.Ende 2021 ordnete das Oberste Gericht die Auflösung der bedeutendsten Menschenrechtsorganisation des Landes an. Der Grund: Memorial International, das seit 2016 als "ausländischer Agent" gelistet war, habe gegen Auflagen verstoßen.
Die Pressefreiheit und die freie Meinungsäußerung sind praktisch eine Farce. In der "Rangliste der Pressefreiheit 2021" von Reporter ohne Grenzen (ROG) belegt Russland Platz 150 von 180, in diesem Jahr dürfte die Platzierung weiter gen Keller gehen. Ein am Freitag von Präsident Wladimir Putin unterzeichnetes Gesetz stellt nun unter Strafe, angebliche Falschinformationen über die russischen Streitkräfte oder den Krieg in der Ukraine zu veröffentlichen. Es drohen hohe Geldstrafen und bis zu 15 Jahre Haft. Am Montag wurden die ersten Geldstrafen nach Inkrafttreten des Gesetzes verhängt.
Putin demonstriert seine Macht und lässt die "Silowiki" gegen Demonstranten aufmarschieren

Mehrere ausländische Medien, darunter die BBC, CNN oder Bloomberg, aber auch deutsche wie die ARD und ZDF setzten ihre Berichterstattung aus Russland daraufhin vorübergehend aus. Die Sorge um die Sicherheit der eigenen Mitarbeiter ist groß.
Auch in unabhängigen russischen Medien: Der liberale Radiosender Echo Moskau wurde abgeschaltet, der Online-Sender Doschd zunächst blockiert – bis er seine Arbeit angesichts des Drucks durch die Behörden vorerst einstellte. Beide Medien sollen angeblich an der Verbreitung von "Fake News" beteiligt sein, hieß es.

Was Fake ist und was nicht, definiert augenscheinlich der Staat. Medien in Russland ist seit zwei Wochen verboten, in der Berichterstattung über den Krieg gegen die Ukraine Begriffe wie "Angriff", "Invasion" oder "Kriegserklärung" zu verwenden. Moskau bezeichnet den "Krieg", ebenfalls ein Tabuwort, als militärische "Sonderoperation".
"Es wäre das Ende"
Glaubt man Kremlchef Putin, so läuft alles "nach Plan" bei dieser "Sonderoperation" – trotz der 498 toten Soldaten, wie sie zuletzt von russischer Seite beziffert wurden. Die Ukraine behauptet, dass bereits mehr als 10.000 russische "Invasoren" getötet worden seien. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig prüfen.
Und glaubt man dem russischen Staatsfernsehen, so kämpfen die eigenen Soldaten im Nachbarland tapfer und überlegen gegen die "Neonazis" in Kiew und "befreien" den Donbass. Ganz nach Putins Erzählung, dass er die Menschen in den ostukrainischen Gebieten vor angeblichen Angriffen ukrainischer Nationalisten in den Regierungstruppen schützen wolle.
Putins Lesart soll sich durchsetzen, das ist offensichtlich, und freie Berichterstattung erschwert – wenn nicht gar getilgt werden.
Am vergangenen Donnerstag, bevor Putin das "Fake News"-Gesetz unterzeichnete, sagte Dmitrij Muratow: "Es wäre das Ende." Der Mitbegründer und langjährige Chefredakteur der "Nowaja Gaseta", der gemeinsam mit der philippinischen Journalistin Maria Ressa den Friedensnobelpreis für ihr Engagement um die Presse- und Meinungsfreiheit erhielt, führte ein Gespräch mit der "Süddeutschen Zeitung", das nun erschienen ist.
"In den vergangenen 30 Jahren haben wir immer wieder Probleme gehabt, Ermittlungen, Strafverfahren", wird Muratow zitiert. "Und wir wussten auch, dass die Gerichte am Ende immer auf Seiten des Staates stehen würden." Doch habe man viele dieser Probleme lösen und weiterarbeiten können. "Doch dieses Gesetz würde dazu führen, dass wir schlicht nicht mehr arbeiten können. Wir werden uns nicht zu Propagandisten machen."
Am vergangenen Freitag, nach der Unterschrift Putins, teilt die "Nowaja Gaseta" mit, unter den gegebenen gesetzlichen Bedingungen nicht mehr weiter über die aktuellen Ereignisse in der Ukraine berichten zu können. "Wir werden nicht länger in der Lage sein, die Wahrheit über die Kämpfe in der Ukraine zu sagen und beiden Seiten das Wort zu überlassen. Wir werden den Beschuss in den Städten unseres Bruderlandes vorübergehend vergessen müssen", hieß es in einer Stellungnahme der Redaktion.
Ein Krieg gegen Fakten
Mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine hat Russland auch einen Krieg gegen die Fakten, gegen kritische Stimmen begonnen. In Russland wird es zunehmend schwer, sich unabhängig zu informieren. Die Medienaufsicht sperrte Facebook und Twitter, beide soziale Netzwerke sind aus Russland nicht mehr erreichbar, da sie "Falschinformationen verbreiten" und "russische Medien diskriminieren" würden. Viele umgehen die Zensur mit dem Messenger-Dienst Telegram, wo gesperrte Medien ihre Inhalte weiter verbreiten können. Telegram-Mitbegründer Pawel Durow erklärte kürzlich, diese für viele mittlerweile einzige Informationsquelle auch künftig nicht beschränken zu wollen.
Unterdessen werden die Pläne einer eigenen Internet-Infrastruktur, einer Art abgekoppeltem "Staatsinternet", offenbar konkreter. Schon 2019 hatte Russland die gesetzlichen Grundlagen für ein "souveränes Internet" geschaffen, das der Regierung ermöglichen soll, das Land im Extremfall vom restlichen Internet abzukapseln.
Neben einer Kontrolle über den Informationsfluss könnte es der russischen Führung womöglich erlauben, die Gefahr durch Cyber- und Hackerangriffen zu schmälern. Das internationale Hacker-Kollektiv "Anonymous" erklärte dem Kreml nach dem Einmarsch in die Ukraine den Cyberkrieg und zielte auf die Kommunikation russischer Behörden. Auch das russische Staatsfernsehen sowie einige russische Streaming-Anbieter nahm "Anonymus" schon ins Visier.
Die russische Regierung rechtfertigt ihr Vorgehen gegen kritische Berichterstattung mit einem "Informationskrieg", der gegen Russland geführt werde – und beschränkt sich dabei nicht auf das eigene Land. Zeitgleich zur militärischen Attacke hatte Russland auch Cyberangriffe auf die Ukraine gestartet, Webseiten ukrainischer Regierungsstellen lahmgelegt.
Am Montag warnte das britische Verteidigungsministerium, dass Russland nun offenbar gezielt auf die Kommunikationsinfrastuktur der Ukraine ziele. Wie es hieß, "um den Zugang der ukrainischen Bürger zu zuverlässigen Nachrichten und Informationen einzuschränken."