Wenn Wladimir Putin zu Tisch bittet, dann gehen die Bilder schon mal um die Welt – etwa, als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und wenige Tage später Bundeskanzler Olaf Scholz dem Kremlherrscher gegenübersaßen, um für eine gewaltfreie Lösung im Ukraine-Konflikt zu werben. Beide wurden gewissermaßen über den etwa sechs Meter langen Tisch gezogen: Kurz nach den Treffen ließ der russische Präsident die Ukraine angreifen.
Das liegt nun acht Wochen zurück. Die Frage bleibt: Was will Putin?
Auch am 58. Tag des Ukraine-Kriegs erweist sich eine Antwort als schwierig. Die Entscheidung über das Ende der russischen Invasion scheint allein im Kopf des Kremlherrschers zu fallen – einem Ort, der hier als wahnhaft und dort als entrückt beschrieben wird, und sich bislang allen Versuchen der Kartografierung und Krisendiplomatie zu verweigern scheint.
Zu Tisch, bitte: Die vielen Botschaften hinter dem machterfüllten Möbelstück

Jeder Happen an Information; jeder noch so kleine Hinweis auf die (eigentlichen) Absichten und Überlegungen des russischen Präsidenten werden daher mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt, könnten sie doch ein Anhaltspunkt über den weiteren Verlauf des Kriegs sein. Insofern war das Video, das der Kreml am Donnerstagmorgen veröffentlichte, durchaus aufschlussreich.
Es zeigt den russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu an einem kleinen Tisch mit Putin, der sich nach zwei Monaten den ersten "Erfolg" seines Feldzugs verkünden lässt. Die umkämpfte Hafenstadt Mariupol sei eingenommen und unter russischer Kontrolle, berichtet Schoigu, der auf der äußersten Stuhlkante sitzt und sich bubenhaft nach vorne beugt.
Der Präsident lehnt etwas verloren im Sessel, als er nach dem Vortrag das weitere Vorgehen vorgibt. Es ist ein absurd anmutendes Schauspiel, das im Staatsfernsehen gezeigt wurde. Und allerhand Fragen aufwirft. Zum Beispiel: Was soll das überhaupt?
Wladimir Putin und die "Befreiung Mariupols"
Seit dem 24. Februar, als Putin zum Angriff auf die Ukraine blies, kam dem Verteidigungsministerium die Rolle zu, den Stand der "Spezialoperation" – wie der Krieg in Russland genannt werden muss – zu erklären. Und die zahlreichen Fehlschläge in vermeintliche Erfolge umzudeuten. Der rasche Rückzug der Truppen aus den Gebieten im Norden und Nordosten der Ukraine, also das offensichtliche Scheitern der russischen Offensive, wurde da kurzerhand als Teil der Strategie ausgegeben. Die bisherige Rollenverteilung dürfte auch dem Versuch geschuldet gewesen sein, den Kremlherrscher von jedem Anschein des Scheiterns abzukoppeln.
Warum also tritt Putin nun als militärischer Oberbefehlshaber ins Rampenlicht?
Seit Beginn der Invasion warten viele seiner Unterstützer auf etwas, das wie ein Teilsieg aussehen könnte – vor allem nach dem weltweit beachteten Untergang des russischen Kriegsschiffs "Moskwa". Dass der Kreuzer vor einer Woche wohl von zwei ukrainischen Raketen versenkt wurde, kratzt noch immer schwer am Stolz der Nation.
Nun, eine Woche später, spricht Putin am Tisch mit seinem Verteidigungsminister Schoigu von der "Befreiung Mariupols". Die Nachricht soll wohl auch den Kampfgeist der Truppe beflügeln. Die Führung in Moskau hatte seit Langem beklagt, dass gerade Mariupol das Zentrum nationalistischer ukrainischer Gruppierungen und damit eine große Gefahr für Russland sei.
Diese Bedrohung sieht Putin nun gebannt – und zeigt sich als Oberbefehlshaber erstmals seit Kriegsbeginn demonstrativ großzügig. Der Präsident gibt den im Stahlwerk eingekesselten ukrainischen Kämpfern noch eine Chance, hält den "vorgeschlagenen Sturm des Industriegebiets" für "unzweckmäßig" und befiehlt, "ihn abzusagen". Die ukrainischen Kämpfer sollten die Waffen strecken und sich in russische Gefangenschaft begeben. "Die russische Seite garantiert Ihnen das Leben", betont Putin. Für die Ukraine dürfte dies auch ein Angebot sein, in Verhandlungen zu treten mit Russland um die Freilassung der in der Heimat gefeierten "Helden von Mariupol".
2500 Kämpfer sollen noch in den für einen Atomkrieg gebauten Katakomben des Stahlwerks ausharren. Die ukrainische Regierung in Kiew spricht zudem von 1000 Zivilisten, unter ihnen Frauen und Kinder – und von 500 verwundeten Soldaten, die dringend medizinische Hilfe bräuchten. Unklar blieb allerdings, wie die Menschen dort rauskommen sollen.

Einfach gehen lassen will Putin die Kämpfer nicht. Er untersagte zwar dem Verteidigungsminister, das Werk zu erstürmen, ordnete aber zugleich an: "Blockiert diese Industriezone so, dass nicht einmal eine Fliege rauskommt". Die Eingeschlossenen gelten in den Gesprächen mit Kiew als wichtige Verhandlungsmasse.
Die Lesart, Putin könnte in Mariupol nun Gnade zeigen, ist natürlich grotesk. Die Hafenstadt wurde wochenlang bombardiert und eingekesselt, fast vollständig in Schutt und Asche gelegt. Neue Satellitenaufnahmen weisen auf ein mögliches Massengrab für bis zu 9000 Tote hin.
Aber was spielt das schon für eine Rolle? Der Kreml kontrolliert die Presse, das heimische Narrativ des Krieges. Statt der schockierenden Berichte über die russischen Gräueltaten in Mariupol bekommen Zuschauer des Staatsfernsehens die Bilder vom vermeintlichen Wohltäter Putin präsentiert, der den ukrainischen Kämpfern die Hand ausstreckt. Auch die Deutung der militärischen Lage erfolgt in Putins Sinne.
"Putin sagte, was die Leute hören wollen"
Die abgeblasene Eroberung des Stahlwerks, die Putin als "unzweckmäßig" bezeichnete, könnte auch als Eingeständnis gelesen werden. Den russischen Truppen ist es nicht gelungen, die ukrainischen Verteidiger zu schlagen. Die Erstürmung des weitläufigen und untertunnelten Geländes würde auch unter den russischen Angreifern hohe Verluste fordern, so lautet jedenfalls die Analyse des britischen Geheimdienstes.
Putins Entscheidung, eine Blockade um das Stahlwerk zu errichten, weise auf den Wunsch hin, den ukrainischen Widerstand in Mariupol in Schach zu halten und russische Streitkräfte für den Einsatz in anderen Teilen der östlichen Ukraine verfügbar zu machen, heißt es in einer Mitteilung des Geheimdienstes von Freitag. Also sitzt der Kremlchef die aktuelle militärische Lage offenkundig aus – während er die Stadt ansonsten für erobert erklärt.
Dass der Sturm auf das Stahlwerk vollends abgesagt ist, hält Leonid Wolkow für unwahrscheinlich. Der russische Exil-Oppositionelle und Vertraute des inhaftierten Kremlkritikers Alexej Nawalny sieht in Putins Auftritt lediglich eine "Wende in der öffentlichen Rhetorik", wie er auf Twitter schreibt.
Wolkow vermutet, dass die Präsidialverwaltung zu dem Schluss gekommen sei, dass Putin dem heimischen Publikum als "Friedensstifter" statt "Falke" verkauft werden müsse, um politisch zu punkten.
Für ihn zeige die Ankündigung des russischen Präsidenten, dass der Krieg nicht von der breiten Bevölkerung unterstützt werde, wie das Regime suggeriert. Als Beispiel nennt Wolkow den russischen Einsatz in Syrien: Mehrfach habe Putin einen Truppenabzug angekündigt (hinter dem er mehrfach zurückblieb), da der Krieg keine breite Unterstützung in der Gesellschaft genoss. "Er sagte, was die Leute hören wollten", so Wolkow.