Zum Loch geht es bergauf. Über Staub und Müll. Über Schlaglöcher und Bremshubbel, die selten neben-, aber sehr oft hintereinander liegen. Raschid mahnt deswegen Vorsicht an. Der untersetzte freundliche Herr hat sich ungefragt ins Auto gesetzt und weist nun den Weg zu einem Loch in der Mauer von Jerusalem. "Weißt du", sagt er in gebrochenem Englisch, "ins Westjordanland rein zu kommen, ist ganz einfach." Er soll Recht behalten: Fünf Minuten und gefühlte drei Achsenbrüche später, klafft ein Spalt in dem vier Meter hohen Wall, gerade so breit, dass ein koreanischer Kleinwagen durchpasst.
"Wir sind jetzt übrigens in der Westbank", sagt Raschid lächelnd und deutet nach links, wo irgendjemand seinen Müll abfackelt. Direkt an der Mauer, vor einem sandfarbenen Plattenbau, dessen Vorplatz eine Schutthalde ist. Der Anblick erinnert an einen dieser Endzeitfilme wie "Mad Max" oder "Die Klapperschlange". Nur, dass der Staub hier etwas freundlicher wirkt. Doch so sieht es aus, am Rande des Schleichwegs hinein in das palästinensische Autonomiegebiet. Das Problem: Die Lücke wird nicht lange bleiben und vor allem wollen hier nur wenige rein, sondern die meisten raus. Der größte Teil, um Geld zu verdienen, einige um einfach nur zu gucken, andere, um mal im Mittelmeer zu baden, und ein paar Irre natürlich, um sich und andere in die Luft zu sprengen.
Eine Weltreise von 13 Kilometern
Die 20-jährige Talla Buscharek gehört zu denjenigen, die täglich ins Westjordanland wollen. Und vor allem wieder zurück. Sie wohnt in Ostjerusalem, studiert aber in Birzeit bei Ramallah, der einzigen Universität in Palästina, Französisch und BWL. Sie kennt die Straßenkinder, die an "ihrem" Checkpoint Kalandia den Wartenden auflauern, um ihnen Bonbons anzudrehen oder die Fenster zu putzen. "Da gibt es einen Jungen, dem kauf ich für ein paar Schekel oft etwas ab, ich mag ihn irgendwie", sagt sie. Die israelischen Soldaten, die am Grenzübergang Dienst tun, dagegen mag sie nicht. Gelinde gesagt.
Durch Kalandia muss jeder, der von Jerusalem nach Ramallah will oder umgekehrt. Gerade einmal 13 Kilometer liegen zwischen den beiden Städten, doch Grenzgängern wie Talla kommt es nicht selten vor wie eine Weltreise. "Ich habe auch schon mal fünf Stunden gebraucht - wobei die Fahrt nicht mal eine gedauert hat." Das sind die schlechten Tage. An guten, jetzt wieder war so einer, ist sie in einer Viertelstunde durch. Aber es gab auch welche, an denen sie gar nicht mehr rüber kam und sich in Ramallah ein Zimmer nehmen musste.
Grenzen sind oft dicht
Über ihr Gesicht legen sich Zornesfalten, wenn sie erzählt, wie sie von den jungen israelischen Grenzsoldaten behandelt wird: "Sie schikanieren uns wo sie nur können. Manchmal darf Ewigkeiten niemand durch, stattdessen machen sie nichts und lassen uns einfach nur warten. Dann verhören sie einen stundenlang, fragen immer wieder, was studierst du, was studierst du? Eine Bekannte von mir musste sich sogar ausziehen. Oft werden die Grenzen geschlossen - einfach so. Ich kann kaum irgendetwas planen, weil ich nie weiß, wie lange ich am Checkpoint festsitze. Das ist doch kein Leben."
Dabei gehört sie zu den Glücklichen, die überhaupt die Checkpoints passieren dürfen. Sie hat einen blauen Pass, den israelischen, wenn auch nur den zweiter Klasse. Der erlaubt es ihr, sich halbwegs frei bewegen zu können. Wer, wo, wann, wie hindarf und ob überhaupt, dafür hat Israel ein komplexes System geflochten. So sind die palästinensischen Gebiete in drei Autonomie-Zonen geteilt, deren Grenze teilweise durch Wohnungen verlaufen. Für den A-Bereich zum Beispiel behält sich das Land ein Zugriffsrecht vor, meist militärischer Art. Autos haben verschiedenfarbige Nummerschilder, für die gelben israelischen gehen die Schranken auf für die grünen palästinensischen nicht. Und es gibt verschiedene Pässe, die einen gewähren alle Rechte, die anderen kaum welche.
Die Armee in Israel ist allgegenwärtig
"Die Willkür an den Grenzen hat System", sagt Talla. "Die Israelis wollen uns mürbe machen, bis wir aufgeben oder besser noch: ganz abhauen." Ähnlich sieht es die "Grenzkontroll-Kontrolleurin" Nomie Lalo: "Die israelische Checkpoint-Politik ist wie die ultimative Strafe für die Palästinenser, eine Schikane, die so etwas wie einen geregelten Alltag unmöglich macht." Lalo ist einer von rund 400 Frauen, die für die Menschenrechtsorganisation Machsomwatch an den Checkpoints steht, und beobachtet, wie sich die Soldaten gegenüber den Palästinensern verhalten. Alles wird dabei fein säuberlich notiert und ins Internet gestellt: Wer wie lange warten musste, ob es Zwischenfälle gab, gewaltsame gar, wer abgewiesen wurde und warum.
Die Armee in Israel ist allgegenwärtig. Sie gehört zum Straßenbild wie in England Kinder in Schuluniformen. 18-, 19-, 20-Jährige in Beige, Grün oder Blau stehen an Bushaltestellen, am Falafel-Stand, trinken Kaffee, flirten miteinander und tragen dabei wie selbstverständlich ihre Maschinengewehre um die Schultern. Drei Jahre müssen die Männer dienen, die Frauen zwei. Das Land verdankt seine Existenz auch dem hochgerüsteten Militär. Es sorgt für Sicherheit und ist deshalb unantastbar. Kritik an dessen Arbeitsmethoden, wie an den Checkpoints, gilt beinahe als Landesverrat.
Wir sind das Gesetz
Und weil jeder hin muss, ist es umso aufschlussreicher, was die Organisation "Breaking the silence" in den vergangenen Jahren zusammengetragen hat: Die anonymen Beichten ehemaliger Soldaten, die Einsätze im Gazastreifen und Westjordanland hinter sich haben oder eben als Grenzer an den Checkpoints. Sie berichten von der aggressiven Stimmung an den Übergängen, von ihrer Angst, davon, dass sich ein Selbstmordattentäter dort in die Luft sprengen könnte. Erst kurz vor dem jüdischen Pessach-Fest Mitte April wurden mehrere mit Dynamit beladende Lkw entdeckt, die an zwei Checkpoints detonieren sollten. Und sie beschrieben, wie sie wahllos Palästinenser zusammenschlagen, sie gefesselt stundenlang unter der Dusche "vergessen" oder aus Versehen einen von ihnen erschossen haben. Eine Psychologin, die früher als Militärberaterin arbeite, hat zu dem Thema fast zwei Dutzend Soldaten befragt. Einer von ihnen erzählte ihr: Wir sind das Gesetz, wir entscheiden, wir sind Gott.
Wo sind hier die Checkpoints?
Richtig Gott gespielt wird dabei nicht einmal an den Übergängen, sondern im Westjordanland. Betonblöcke versperren dort alle paar Kilometer die Straßen, Zufahrten sind abgeriegelt und überall können plötzlich mobile Checkpoints auftauchen, denen sich die Bewohner mal langsam, mal zügig nähern müssen - niemand weiß es vorher. Besonders heikel wird es immer dann, wenn in der Nähe jüdische Siedlungen sind, denn die werden besonders scharf bewacht. Die Besatzungsmacht Israel lässt ihren Gesetzeshütern gerne freie Hand. "Diese Schikanen überall schüren Hass, und der schlägt doch auch uns Israelis zurück", sagt Nomie Lalo verständnislos.
Am Checkpoint Kalandia ist es diesmal ruhig. Eine Handvoll Soldaten lotst gelangweilt die zwei Dutzend Autos und Laster durch den Staub Richtung Ostjerusalem, vorbei an der Mauer auf der jemand "Drücken Sie Steuerung, Alt, Entfernen" gesprüht hat - der Tastenkombination für den Computer-Neustart. Talla erzählt, dass sie vor einigen Monaten von Berlin über München nach Österreich gereist ist. "Wir wurden nicht einmal kontrolliert. Es war eigentlich herrlich", sagt sie mit funkelnden Augen. "Aber ich habe immer nur gedacht, hier müssen doch irgendwo Checkpoints sein, wo sind hier die Checkpoints? Vielleicht unter der Erde? Das ist doch nicht normal, oder?"