Edward Snowden, Chelsea Manning, Jack T.? Dass sein Name einmal im selben Atemzug mit den bekanntesten 'Verrätern' der jüngeren US-Geschichte genannt würde, damit hat der 21-Jährige sicher nicht gerechnet. Dabei ist der junge Mann, der für das größte Datenleck seit Jahren verantwortlich ist, vermutlich nicht einmal ein Whistleblower. Wie es aussieht, wollte T. kein Unrecht aufdecken, er wollte nicht die Welt verändern. Er wollte offenbar nur angeben. Vor seinen Freunden – von denen er die meisten vermutlich nicht einmal kannte.
Wer ist der Mann, der die US-Geheimdienste ins Schwitzen und das Weiße Haus in Erklärungsnot gebracht hat? Wer ist Jack T.?
Was wurde geleakt?
Anfang März waren in sozialen Medien Dutzende mutmaßliche US-Dokumente aus verschiedenen Geheimdienstquellen aufgetaucht, manche sogar vom US-Oberkommando. Einen Monat später wusste die ganze Welt um das Datenleck. Obwohl einige der Informationen offenkundig im Nachhinein manipuliert wurden, ist ein Großteil nach derzeitigem Kenntnisstand echt.
Die Hunderte Seiten an mutmaßlichem Geheimmaterial sollen neben genauen Frontlinien, Truppenstandorten und dem Zustand der ukrainischen Luftabwehr auch beweisen, wie weitreichend die Spionage der US-Geheimdienste im Ausland geht – nicht nur die von Feinden. Die Dokumente sollen belegen, dass US-Spione auch verbündete Regierungen in Israel, Südkorea und der Ukraine abhörten. Sogar UN-Generalsekretär António Guterres könnte unter den Bespitzelten sein.
Was an der Befürchtung dran ist, dass die sogenannten Discord Leaks die Planung der ukrainischen Frühjahrsoffensive zurückwerfen könnten, ist schwer zu sagen. Ohnehin ist noch unklar, welche Konsequenzen das Leak noch nach sich zieht.

Sehen Sie im Video: Ehemalige Mitschüler nach Festnahme von 21-Jährigem – "Nicht seine schlauste Idee".
Wie gelangten die Dokumente an die Öffentlichkeit?
Auf Discord, einer vor allem bei Gamern beliebten Plattform (mehr dazu lesen Sie hier), ist T. seinen Freunden als "OG" bekannt. In einem von ihm geleiteten privaten Chatroom namens "Thug Shaker Central" sollen sich 20 bis 30 handverlesene Mitglieder aus verschiedenen Ländern zusammengefunden haben.
Was ein halbes Jahr später schwer bewaffnete Bundesagenten an T.'s Türschwelle bringen sollte, begann eigentlich 'harmlos' – als digitaler Raum, wo junge Männer und Jugendliche während der endlosen Langeweile der Corona-Isolation (teils rassistische) Witze machten, sich über ihr gemeinsames Faible für Waffen austauschten und Kriegsspiele, vermutlich Shooter, spielten. Der "Washington Post" zufolge ging es um "Memes, anzügliche Witze und leeres Geschwätz".
Ein Mitglied habe T. als charismatischen Waffennarren beschrieben, ein anderer sagte laut der "New York Times": "Er war der Mann, der Mythos. Und er war die Legende. Jeder respektierte diesen Mann." Genau darum ging es T. offenbar: um Respekt, um Anerkennung. Als er im Oktober 2022 damit begann, sensible Informationen im Chat zu veröffentlichen, war er zunächst angeblich nicht gerade zufrieden mit der verhaltenen Reaktion seiner Clique. Zu dem Zeitpunkt soll er die Verschlusssachen noch händisch abgetippt haben. Sein Publikum konnte den komplizierten Memos aber offenbar nicht viel abgewinnen. Daraufhin habe T. eine Schippe draufgelegt, indem er Fotos und Originaldokumente weitergeleitet habe, darunter detaillierte Karten mit Frontverläufen und Bilder russischer Kriegsgeräte. Von hier aus war es nur eine Frage der Zeit, bis die Informationen ihren Weg auf andere Plattformen und schließlich in die ganze Welt fanden. Etwa 350 Seiten sollten es am Ende werden. Über die Folgen lässt sich derzeit nur spekulieren.
"Ich wollte nie, dass es so weit kommt", sagte T. laut NYT einem Chatmitglied zufolge in einem Telefonat im "Thug Shaker Central". "Leute, es war gut – ich liebe euch alle." Wenig später rückte das FBI an. Die aus der Luft aufgenommenen Live-Bilder seiner Verhaftung gehen um die Welt. Zu sehen ist, wie schwer gerüstete Spezialkräfte einen schlaksigen Mann in roten Sportshorts abführen. Widerstand leistet der Verdächtige nicht.
Bachmut vor dem Fall. Bilder einer Schlacht, die nicht enden darf

Schon fast ein Jahr lang kommt es in der 75.000-Einwohner-Stadt zu Auseinandersetzungen mit prorussischen Separatisten. Bereits im Frühjahr gleichen manche Ecken Bachmuts Trümmerfeldern.
Wer ist Jack T. überhaupt und was steht ihm jetzt bevor?
Fotos auf Social-Media-Konten seiner Familienmitglieder zeigen einen jungen, gutaussehenden Mann – US-Berichten zufolge mal mit den Familienhunden, mal beim Quad-Fahren, mal im Basketball-Trikot der Boston Celtics. "Herzlichen Glückwunsch zum 19. Geburtstag an unseren IT-Mitarbeiter und Teilzeit-Lieferanten Jack!", schreibt T.'s Mutter im Dezember 2019 über den Facebookaccount ihres Blumengeschäfts. Dazu postet sie ein zweigeteiltes Foto, das ihren Sohn als Baby und in Militäruniform zeigt. Ein halbes Jahr später macht ihr Sohn seinen Highschool-Abschluss.
Die Abschlusszeremonie in seiner Heimatstadt North Dighton, einer Kleinstadt knapp eine Autostunde von Boston entfernt, verpasst er allerdings. T. nimmt lieber an der Grundausbildung der Air Force teil. Bereits ein Jahr zuvor war er freiwillig in die Massachusetts Air National Guard eingetreten, einer Reserveeinheit der US Air Force. Familientradition sozusagen. Sein Stiefvater soll 34 Jahre lang gedient, seine Mutter Freiwilligenarbeit für Veteranen geleistet haben.
Zum Verhängnis wurde dem jungen "Patrioten", wie ihn Chatfreunde beschrieben, am Ende wohl ein Foto auf einem der Social-Media-Konten seiner Schwester. Auf einem Bild war laut NYT eine Küchenarbeitsplatte zu sehen, "Die identisch mit der Oberfläche zu sein schien, auf der die geheimen Dokumente fotografiert wurden."
Was T. jetzt blüht, ist unklar. Justizminister Merrick Garland zufolge geschah seine Verhaftung "im Zusammenhang mit einer Untersuchung über die mutmaßliche unbefugte Entfernung, Aufbewahrung und Weitergabe von Verschlusssachen der nationalen Verteidigung". Das wiederum lässt vermuten, dass T. wegen Verstößen gegen den sogenannten "Espionage Act" von 1917 angeklagt werden könnte. Das Gesetz besagt, dass es für jeden, der über Informationen im Zusammenhang mit der nationalen Verteidigung verfügt, illegal ist, diese "zum Schaden der Vereinigten Staaten" oder "zum Vorteil einer fremden Nation" zu verwenden. Einfach gesagt: Wer Staatsgeheimnisse verrät, dem drohen pro Verstoß bis zu zehn Jahre Haft.
Warum hatte ein 21-Jähriger Zugriff auf Top-Secret-Informationen?
Für Washington ist die ganze Geschichte nicht nur hochgradig peinlich, sondern ein echtes Sicherheitsrisiko. Ein Risiko, das – wie schon zuvor – hätte vermieden werden können.
T.'s Dienstakte zufolge lautet sein Jobtitel "Cyber Transport Systems journeyman", was bedeutet, dass er für die Wartung des Kommunikationsnetzwerks der Air Force mitverantwortlich ist. Als Qualifikation setzt die Air Force neben einer siebeneinhalbwöchigen militärischen Grundausbildung auch den Abschluss eines umfassenden Backgroundchecks voraus, bei dem unter anderem Familienmitglieder des Bewerbers interviewt werden. Über welche Sicherheitsfreigabe T. verfügt, ist noch unklar. Allerdings hatte er laut Informationen der WP Zugang zum internen Computernetzwerk des Verteidigungsministeriums, dem "Joint Worldwide Intelligence Communications System". Das habe einem anonymen Beamten zufolge vermutlich gereicht, um die brisanten Aufzeichnungen zu lesen und eventuell sogar auszudrucken.
T. bekleidet bei der Nationalgarde den Rang eines "Airman First Class". Was erstklassig klingt, ist tatsächlich der drittniedrigste Dienstgrad bei der Luftstreitkraft. Da stellt sich natürlich die Frage: Wie kommt ein Berufsanfänger, der gerade erst legal Bier kaufen darf, an Geheimdokumente?
Die kurze Antwort: Entgegen der Vermutung ist "Top Secret" gar nicht mal so geheim. Obwohl dies nach "Confidential" und "Secret" tatsächlich die höchste Geheimhaltungsstufe in den USA ist, haben mehr als eine Millionen Mitarbeiter der US-Regierung und Auftragnehmer potenziell Zugriff auf solch 'streng geheime' Informationen. Das geht aus einem Bericht des National Counterintelligence and Security Center aus dem Jahr 2020 an den Kongress hervor. Im Pentagon, so schreibt das US-Magazin "Politico", stellen junge Offiziere häufig Briefings für hochrangige Führungskräfte zusammen. Dabei geht ihr Zugriff allerdings oft weit über ihr Tätigkeitsfeld hinaus. Auch bei T. könnte das der Fall gewesen sein.
Das lassen auch die Aussagen von Pentagon-Sprecher Patrick Ryder vermuten. Es sei nicht ungewöhnlich, dass man jungen Menschen Zugriff zu Geheiminformationen gebe und großes Vertrauen in sie setze. "Das nennt man militärische Disziplin", sagte er General am Donnerstag.
Vertrauen ist gut, (mehr) Kontrolle wäre hier ganz offensichtlich besser gewesen.
Quellen: BBC; "New York Times" (1); "New York Times" (2); "Washington Post"; "Politico"; "Vox"