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Rückkehr der Schreckensherrschaft? So könnte Afghanistan unter den Taliban aussehen

Taliban-Kämpfer stehen Wache vor dem internationalen Flughafen Hamid Karzai
Kabul, Afghanistan. Taliban-Kämpfer stehen Wache vor dem internationalen Flughafen Hamid Karzai. Tausende Afghanen stürmten das Rollfeld und drängten in die Flugzeuge im verzweifelten Versuch, aus dem Land zu fliehen.
© -/AP / DPA
Afghanistan befindet sich inzwischen faktisch in der Hand der militant-islamistischen Taliban. Die Erinnerung an die  einstige Schreckensherrschaft lässt viele Afghanen für die Zukunft das Schlimmste befürchten.

Kabul ist gefallen, der Machtapparat in Afghanistan in sich zusammengebrochen. Am Sonntag eroberten die militant-islamistischen Taliban auch die Hauptstadt des krisengebeutelten Landes, nachdem zuvor zahlreiche Provinzhauptstädte in ihre Hände gefallen waren. Staatschef Aschraf Ghani setzte sich ins Ausland ab, nur wenige Stunden später nahmen die Taliban seinen Amtssitz ein. Die Verhandlungen für eine "friedliche Machtübergabe" haben begonnen. 

"Heute ist ein großer Tag für die Afghanen und die Taliban", teilte ein Sprecher der Taliban am Sonntag mit. Die Menschen würden nun die "Früchte ihrer Bemühungen und Opfer" in den letzten 20 Jahren ernten. "Gott sei Dank, der Krieg in diesem Land ist nun vorbei."  

Trotz der Behauptungen der Taliban, eine Regierung der "nationalen Einheit" und Frieden für das Land anzustreben, befürchten viele Afghanen, dass die Taliban zu den grausamen und repressiven Praktiken zurückkehren werden, die ihre vorherige Herrschaft zwischen 1996 und 2001 bestimmten.

Das "Islamische Emirat Afghanistan"

Es wird erwartet, dass die Taliban in den kommenden Tagen ein neues "Islamisches Emirat Afghanistan" ausrufen werden – so wie schon vor dem Einmarsch der US-Truppen im Jahr 2001. Damals setzten sie mit drakonischen Strafen ihre Vorstellung eines "Gottesstaats" durch: Frauen und Mädchen wurden systematisch unterdrückt, Künstler und Medien zensiert, Menschenrechtsverletzungen waren an der Tagesordnung.

Die Taliban-Herrschaft basierte auf einer extrem rigiden Auslegung der Scharia, des islamischen Rechts. Musik, Tanz, Fernsehen und andere beliebte Freizeitaktivitäten wie das Steigenlassen von Drachen waren verboten. Mädchenschulen wurden geschlossen, Frauen durften keiner Erwerbstätigkeit nachgehen. Sie mussten zudem die Ganzkörperbedeckung Burka tragen. Die Einhaltung der Vorschriften wurde von einer Religionspolizei überwacht.

Die religiösen Studenten

Der Name der Miliz ist vom arabischen Wort "talib" (Student) abgeleitet. Ihren Ausgang nahm die Bewegung an sunnitisch-islamischen Koranschulen in Pakistan, wo viele vor der sowjetischen Besatzung Afghanistans (1979-89) geflüchtete junge Männer studierten. Als nach dem sowjetischen Abzug in Afghanistan ein Bürgerkrieg ausbrach, wurden in der südafghanischen Provinz Kandahar die Taliban als Verbund von Kämpfern mit radikalislamischer Gesinnung gegründet.

Die Strafen bei Gesetzesverstößen waren oft drakonisch. So wurden Frauen, die des Ehebruchs bezichtigt waren, zu Tode gesteinigt. In einigen kürzlich von den Taliban eroberten Regionen wurde Frauen bereits der Besuch von Schulen und Universitäten sowie das Verlassen des Hauses ohne männliche Begleitung verwehrt, wie der "Guardian" berichtete. 

UN-Generalsekretär António Guterres rief die Islamisten zur Zurückhaltung auf. Er sorge sich insbesondere um die Zukunft der Frauen und Mädchen in Afghanistan, "deren hart erkämpfte Rechte geschützt werden müssen", erklärte Guterres am Sonntag. Er forderte die Taliban und alle anderen Beteiligten auf, "äußerste Zurückhaltung zu üben" und humanitären Helfern ungehinderten Zugang zu den Menschen zu gewähren. Die Miliz teilte auf Twitter mit, junge Mädchen dürften am Montag wie gewohnt zur Schule gehen.

Die erste Eroberung der Macht

Während des Bürgerkriegs der neunziger Jahre hatten die Taliban anfänglich die heimliche Unterstützung der USA. Vor allem profitierten sie aber von massiver Hilfe aus Pakistan. Die Taliban waren nicht nur mit Panzern und schweren Waffen ausgerüstet, sondern hatten auch das Geld, um sich die Unterstützung örtlicher Warlords zu erkaufen. Am 27. September 1996 übernahmen die Taliban mit dem Einmarsch in Kabul die Macht im Land. 

Frauenrechtsorganisationen haben sich mit eindringlichen Appellen an die Bundesregierung gewandt, gerade Frauenrechtlerinnen und Mitarbeiterinnen von Hilfsorganisationen in Afghanistan bei der Ausreise zu unterstützen. Insbesondere zivile Akteurinnen, die sich für die Rechte von Frauen eingesetzt hätten, schwebten nun in Todesgefahr, hieß es in einer Mitteilung der Organisation. "Schon jetzt rächen sich die Taliban an Frauen, die sich für ihre Rechte einsetzen oder eingesetzt haben", sagte die stellvertretende Terre-des-Femmes-Vorsitzende Inge Bell am Montag.

Berichte über drakonische Strafen

Für Aufregung sorgten auch Videos und Bilder von zwei mutmaßlichen Straftätern, die Berichten zufolge von militant-islamistischen Talibankämpfern an einem Strick durch die Stadt geführt wurden. In den in sozialen Netzwerken kursierenden Videos ist zu sehen, wie die Männer, deren Gesichter mit schwarzer Farbe bemalt sind, erst auf ein Podest gestellt und dann an einem Strick über eine Straße geführt werden. Eine unabhängige Bestätigung für die Echtheit der Aufnahmen gab es zunächst nicht. In einem Video, das nahe des Podests gefilmt wurden, rufen die Männer "Gott ist groß" und "Lang lebe das Islamische Emirat Afghanistan". 

Die "New York Times" berichtete unterdessen, dass Taliban in einer Stadt nördlich von Laschkargah zwei Männer für alle sichtbar am Eingangstor zur Stadt gehängt hätten. Die Männer seien beschuldigt worden, Kinder entführt zu haben.

Der Sturz

Nach den von Al-Kaida verübten Terroranschlägen vom 11. September 2001 in USA machte der damalige US-Präsident George W. Bush die Taliban mitverantwortlich. Afghanistan war das erste Ziel seines "Krieges gegen den Terror". Im Oktober 2001 rückten die die USA und ihre Verbündeten in Afghanistan ein, schon im Dezember waren die Taliban gestürzt. 

Die Lage in der Stadt Kabul selbst war am Montag angespannt, aber zunächst ruhig. Die Taliban besetzten überall in Kabul Polizeistationen und andere Behördengebäude, wie Bewohner der Deutschen Presse-Agentur berichteten. Bewaffnete Kämpfer fuhren in Militär- und Polizeiautos sowie anderen Regierungsfahrzeugen durch die Stadt. Gleichzeitig errichteten sie weitere, eigene Kontrollpunkte in manchen Straßen.

Ein Taliban-Sprecher teilte mit, dass "niemand ohne Erlaubnis das Haus eines anderen betreten darf". Tausende Kämpfer sollen demnach auf dem Weg nach Kabul sein, um dort für "Sicherheit" zu sorgen. Mullah Abdul Ghani Baradar, einer der Gründer der Taliban, rief die Milizionäre in einem Online-Video zur Disziplin auf: "Jetzt ist es an der Zeit, zu beweisen, dass wir unserer Nation dienen und für Sicherheit und ein angenehmes Leben sorgen können."

"Ich habe meine Frau gefragt, ob es genug Burkas für sie und die Mädchen gibt"

Viele Afghanen wollen daran offenbar nicht glauben. Hunderte oder vielleicht auch Tausende Menschen haben sich seit Sonntag zum Flughafen aufgemacht, um nach der Machtübernahme aus dem Land zu fliehen (lesen Sie hier mehr dazu). Bilder in sozialen Medien zeigen, wie sie überall am zivilen Teil des Flughafengeländes stehen oder über Drehleitern klettern, um in ein Flugzeug zu gelangen.

Andere beginnen offenbar, sich auf ein Leben unter strenger islamischer Herrschaft vorzubereiten. "Meine erste Sorge war es, meinen Bart so schnell wie möglich wachsen zu lassen", zitierte die Nachrichtenagentur Reuters einen Mann aus Kabul. "Ich habe meine Frau gefragt, ob es genug Burkas für sie und die Mädchen gibt." 

Die Offensive

2018 begannen in Doha in Katar die ersten direkten Gespräche zwischen der Regierung des damaligen US-Präsidenten Donald Trump und den Taliban. Die Gespräche mündeten am 29. Februar 2020 in eine Vereinbarung, in der ein Zeitplan für den Abzug der US-Truppen abgesteckt wurde. Der Abzug verzögerte sich zwar zwischenzeitlich, begann dann aber unter Trumps Nachfolger Joe Biden im Mai. Parallel zu den USA zogen auch die anderen Nato-Truppen aus Afghanistan ab, darunter die Bundeswehr. Inzwischen ist der Abzug fast vollendet, während die Taliban einen Großteil des Landesterritoriums und fast alle Großstädte unter ihre Kontrolle gebracht haben.

Viele westliche Länder zeigten sich überrascht angesichts des rasanten Tempos, in dem die Taliban in den vergangenen Tagen eine Stadt nach der anderen teilweise kampflos einnahmen. Auf dem Papier waren die Taliban den afghanischen Streitkräften unterlegen. Rund 300.000 Mann bei Polizei und Armee standen Schätzungen zufolge rund 60.000 schlechter ausgerüsteten Taliban-Kämpfern gegenüber.

Diese profitieren aber von ihrem brutalen Ruf, den sie sich während ihrer Herrschaft in den 1990er-Jahren mit öffentlichen Exekutionen oder Auspeitschungen verdient haben. Mit psychologischer Kriegsführung und dem Einsatz sozialer Medien brachten sie viele Sicherheitskräfte zur Aufgabe. Andernorts einigten sich lokale Politiker, Älteste oder Stammesführer über den Köpfen der Sicherheitskräfte hinweg mit den Taliban auf eine Kapitulation.

Dennoch zeigte sich Taliban-Mitbegründer und -Unterhändler Mullah Abdul Ghani Baradar überrascht, wie schnell das Land unter die Kontrolle der Taliban geraten war. "Wir haben einen Sieg erreicht, der nicht erwartet wurde", sagte er in einem Online-Video, über das der "Guardian" berichtete. "Wir sollten Demut vor Allah zeigen."

Quellen: CNN, "The Guardian", "New York Times", mit Material der Nachrichtenagenturen DPA und AFP

fs

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