Herr Geißler, Attac wird zehn Jahre alt. Braucht Deutschland überhaupt eine außerparlamentarische Opposition?
Ich glaube, dass bei der wachsenden Bedeutung der Zivilgesellschaft die politischen Parteien allein nicht mehr in der Lage sind, Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln. Das müssen die politischen Parteien natürlich auch tun, aber sie brauchen die Verbindung und den argumentativen Austausch mit wichtigen Organisationen der Zivilgesellschaft. Dazu gehört Attac mit Sicherheit, Amnesty International, Greenpeace, aber auch die evangelische Diakonie oder die katholische Caritas.
Zur Person
Heiner Geißler ist deutscher Sozialpolitiker und Parteifunktionär. Von 1977 bis 1989 arbeitete er als CDU-Generalsekretär, in den Jahren 1982 bis 1985 war er Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit.
Im Mai 2007 trat Geißler dem globalisierungskritischen Netzwerk Attac bei, um an einer humanen Gestaltung der Globalisierung mitwirken zu können.
Sie sind seit knapp drei Jahren bei Attac. Wie sieht Ihr Resümee für diese Zeit aus?
Einerseits hat Attac ja Erfolg gehabt. Ich will mal so sagen, wir haben argumentativ gesiegt, auch in der globalen Auseinandersetzung. Attac ist ja die Abkürzung für association pour une taxation des transactions financières pour l'aide aux citoyens (deutsch: Vereinigung zur Besteuerung von Finanztransaktionen im Interesse der BürgerInnen. die Red.). Das heißt, Attac ist gegründet worden, um die Einführung einer internationalen Finanztransaktionssteuer durchzusetzen. Dafür trete ich schon seit langer Zeit ein. Man ist immer wieder ausgelacht worden von Wirtschaftsprofessoren und Wirtschaftsjournalisten, die das nicht kapiert haben. Jetzt ist diese Reform international eine wichtige Forderung. Attac hat insofern einen Sieg in der intellektuellen Auseinandersetzung errungen.
Angesichts der Krise hat sich Bundeskanzlerin Merkel genau diese Forderung, nämlich eine Steuer auf Transaktionen auf den Finanzmärkten, auf die Fahnen geschrieben. Glauben Sie, dass da jetzt was draus wird?
Es läuft ja mehr unter dem populären Namen "Börsenumsatzsteuer", aber diese Steuer, wie die SPD sie vorschlägt, auf rein nationaler Ebene, wird nicht viel bringen. Das könnte man relativ leicht beschließen. Man braucht, wenn die Sache wirksam sein soll, eine internationale Vereinbarung, vor allem der großen Industriestaaten. Die G20-Staaten haben das vor einem halben Jahr auch so gesehen, die einzigen, die sich noch dagegen sperren, sind die Vereinigten Staaten und die Kommunisten aus China. Diesen Widerstand müsste man überwinden und dann könnte man eine solche internationale Steuer einführen, die erhebliche Vorteile hätte.

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Wer ist für Sie "das Gesicht der Krise"?
Das kann man nicht auf eine Person reduzieren. Es sind vielleicht 50.000 Broker, Ratingagenten und Investmentbanker. Viele tun so, als ob gar nichts passiert wäre. Und deswegen muss Attac aktiv bleiben, denn in den kommenden Jahren bahnt sich ja eine neue Krise an. Die Bombe, die da scharfgemacht wird, liegt eben darin, dass die Spekulationen weitergehen, besonders kriminell mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln wie Zucker, Getreide, Mais, Reis, aber auch Öl. Und durch die Spekulationen werden die Weltmarktpreise nach oben getrieben, was natürlich die Armut, beispielsweise in den südamerikanischen Ranchos und Favelas, verstärkt.
Was kann der Einzelne tun, um eine globale Regulierung der Finanzmärkte zu bewirken und künftige Krisen zu vermeiden?
Der Einzelne kann zum Beispiel Mitglied von Attac werden, er kann auch bei den Wahlen die richtige Partei wählen, die sich für diese Ziele einsetzt.
Welche wäre das zum Beispiel?
In dem Fall die CDU. Die SPD schlägt es auch vor, aber eben auf nationaler Ebene, das wird nicht funktionieren. Oder er gründet selber eine Partei. Die Mitwirkungsmöglichkeiten in einer Demokratie sind vielfach.
Die Gefahr von sozialen Unruhen
Wie fühlt man sich eigentlich als "Querulant" in einer Partei wie der CDU? Fühlen Sie sich dort nach Ihrem Attac-Beitritt noch gut aufgehoben?
Also ich habe nur Zuspruch bekommen. Querulant liegt völlig daneben, wir sind ja keine preußische Armee. Die CDU sollte wieder Volkspartei werden. Dazu muss eine offene Diskussion möglich sein. Als im geistigen Sultanat der 90er Jahre die Diskussion abgewürgt wurde, begann der Niedergang der CDU.
Wo haben Sie Ihrer Meinung nach mehr bewirkt? In der CDU oder bei Attac?
Ich war Generalsekretär der CDU, und was ich da getan habe, ist bekannt. Ich nenne zum Beispiel die Konzeption und Durchsetzung des Elterngeldes, den Elternurlaub, die Weiterbeschäftigungsgarantie für berufstätige Mütter und die Anerkennung von Erziehungsjahren in der Rentenversicherung. Meine Mitgliedschaft bei Attac ist eine ideelle, weil ich dieses globale Netzwerk vor allem junger Leute wegen ihrer Zielsetzung, aber auch wegen ihres Einsatzes für die Demonstrationsfreiheit unterstütze.
Wie sollte Ihrer Meinung nach die außerparlamentarische Opposition in Zukunft aussehen, um wirksamen Einfluss zu haben?
So wie Attac. Ich meine, da gibt’s natürlich auch Leute, mit denen ich nicht einverstanden bin und mit denen ich auch streite. Zum Beispiel bei der Nato-Tagung in Straßburg/Baden Baden hat es auch Leute von Attac gegeben, die glaubten, sie müssten gegen die Nato demonstrieren, aber damit machen sie sich zu Handlangern der Taliban. Die einzige Organisation, die überhaupt in der Lage ist, Menschenrechte auf der Erde zu schützen, ist die Nato. Radikalinskis gibt es auch in der katholischen Kirche, zum Beispiel die Pius-Brüder oder Opus Dei. Deswegen trete ich doch auch nicht aus meiner Kirche aus.
Im Juni 2006 sagten Sie in einer Fernsehsendung: "Wenn mich einer anfasst, dann schlage ich zurück – und wenn es ein Polizist ist, dann schlage ich zurück. Wenn ich demonstriere, dann übe ich ein Grundrecht aus, dann lasse ich mich nicht anfassen – von niemandem." Kam es im Laufe Ihrer NGO-Tätigkeit zu einem solchen Vorfall?
Nein, solche Situationen hat es nicht gegeben. Es geht um ungerechtfertigte Angriffe, gegen die jeder Bürger ein Notwehrrecht hat. Zum Glück haben wir in Deutschland eine rechtsstaatliche, demokratische Polizei. Man kommt also, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht in die Gefahr, ungerechtfertigt von ihr angegriffen zu werden.
Im Jahr 2008 sickerte eine Studie durch, in der die CIA prognostiziert, dass es um das Jahr 2020 Bürgerkriege in europäischen und auch deutschen Ballungsgebieten geben wird. Teilen Sie diese Ansicht?
Ich bin nicht mit der Gabe der Prophetie versehen, aber ich halte das nicht für ausgeschlossen, wenn es so weitergeht mit dem Prekariat, mit der Verarmung von Millionen von Menschen auch in den großen Industriestaaten. Irgendwann wird die Sache zur Auseinandersetzung führen, das ist gar keine Frage. Vor allem wegen der überheblichen Weise, wie das in Deutschland geschieht, wo in den Medien über das Schicksal von Hartz-IV-Empfängern geredet wird, als wären es asoziale Untermenschen, zum Teil mit Lügen und falschen Behauptungen, die auch von einer ganz bestimmten Presse aus gesteuert sind. Da kann man soziale Unruhen auf Dauer nicht ausschließen.
Angenommen, es kommt tatsächlich zu solchen sozialen Unruhen und die Kritik am System entlädt sich in Gewalt - ist das auch ein Mittel, um die Zukunft des Systems zu beeinflussen?
Sie meinen Gewaltanwendung? Nein. Soweit sind wir ja nun nicht. Gewaltanwendung gegen eine Diktatur, eine autoritäre Regierung ist zwar rechtlich möglich. Ein solches Widerstandsrecht steht sogar im Grundgesetz. Dafür gibt es aber klare Kriterien, die ja auch für die Gewaltanwendung zwischen den Staaten gelten. Es muss ein gerechter Grund sein, die Gewaltanwendung muss das letzte Mittel sein. Diejenigen, die Gewalt anwenden, müssen politische Lösungen im Kopf haben und vor allem das Lebens- und Gesundheitsrecht der unbeteiligten Menschen schützen. Das sind klare Kriterien, die im Völkerrecht gelten. So weit sind wir in Deutschland nicht, hoffentlich kommen wir auch nie dazu. Aber wenn die Kluft zwischen Arm und Reich in der Form weiter auseinander geht und vor allem auch Leute in der Politik und Publizistik überheblich und arrogant über Menschen reden und schreiben, die ihr Leben lang gearbeitet haben und dann nach einem Jahr zu Fürsorgeempfängern gestempelt werden, wie das bei Hartz IV der Fall ist, dann kann die Sache natürlich psychologisch irgendwann mal brisant werden.
Werden Sie an der Attac-Geburtstagsfeier in Frankfurt teilnehmen?
Nein, ich bin noch in der Reha. Ich hab ja einen Gleitschirmunfall gehabt, bin operiert worden und muss jetzt wieder gesund werden.