Um Punkt 15 Uhr schritten sie auf breiter Front die Kaimauer des Berliner Westhafens entlang und direkt auf die wartenden Kameras zu: Die Hauptverhandler von SPD, Grünen und FDP, der künftige Kanzler, der Vizekanzler, die Parteichefs und Generalsekretäre der drei Parteien. Wie eine Ampel-Gang. "Die Ampel steht", verkündete wenig später ihr Leader Olaf Scholz von der SPD, der künftige und neunte Kanzler der Bundesrepublik Deutschland.
Doch das ist nicht der erste Satz, den Scholz an diesem Nachmittag sagen wird. Es dauert noch einen Moment bis dahin. Es beginnt, pandemiebedingt, bleischwer. Bloß kein Triumphgeheul, keine Siegerposen, keine Sektflöten – all das ziemt sich nicht in Zeiten, da die vierte Corona-Welle das Land in Atem hält. Und so beginnt Scholz mit einem 7-Punkte-Corona-Plan, den die Ampel sofort angehen will. Von einem Bund-Länder-Krisenstab bis zum dauerhaften Pandemie-Expertenrat, von einer massiven Impfkampagne bis zum 1-Milliarde-Euro-Bonus für die geplagten Pflegerinnen und Pfleger. Für das, was sie geleistet haben – und wohl noch werden leisten müssen.
Damit ist der Ton ist gesetzt, sehr viel freudvoller wird es an diesem Nachmittag nicht mehr werden.
Olaf Scholz: "Uns eint der Glaube an den Fortschritt"
Auch darum haben sie sich die Unterhändler so beeilt, um an diesem Mittwoch, genau 60 Tage nach der Bundestagswahl ihren 177 Seiten langen Koalitionsvertrag vorstellen zu können. "Mehr Fortschritt wagen", das wollen die Ampelkoalitionäre. Der Titel ihres Paktes klingt nicht ganz zufällig nach Willy Brandt, der mit seiner ersten sozialliberalen Koalition "Mehr Demokratie wagen" wollte.
"Uns eint der Glaube an den Fortschritt", sagt Scholz. Bei allen Gegensätzen natürlich. Und sie haben sich wirklich ein paar wuchtige Sätze aufschreiben lassen, die sie nun voll Emphase vortragen: "Es geht uns nicht um eine Politik des kleinesten gemeinsamen Nenners, sondern um eine Politik der größten Wirkung", sagt Scholz. Eine Politik, "in der Gegensätze sich ergänzen und damit überwunden werden können", sagt sein künftiger Vizekanzler, der Grüne Robert Habeck. Und der wohl nächste Finanzminister Christian Lindner sekundiert: Man wolle eben "keine Koalition der ausschließenden, sondern der komplementären Politik".
Soll niemand denken, der Fortschritt habe es zu leicht gemacht
Das sei schon deshalb nicht ganz einfach gewesen, weil diese Parteien "in den vergangenen Jahren ihre Unterschiedlichkeit nicht gerade verborgen" haben, wie Lindner sagt. Klar, das darf nicht fehlen an so einem Tag, die Betonung darauf, wie schwierig es war, wie sie gestritten und gerungen hätten, teils "Stunden um einzelne Sätze", denn alle müssen mit dem Ergebnis durch ihre Gremien, durch Parteitage, im Falle der Grünen sogar durch eine Mitgliederabstimmung. Soll niemand denken, der Fortschritt hätte es sich zu einfach gemacht.
Diesen unbedingten Fortschrittswillen sollen vermutlich auch die Flyer mit den inzwischen unvermeidbaren QR-Codes vermitteln, die auf allen Presseplätzen in der Messehalle ausgelegt sind. Zum richtigen Zeitpunkt gescannt sollen sie zum Koalitionsvertrag leiten. Manche rot, andere grün und gelb. Doch die meisten Handys können die Codes nicht erkennen. Nur bei den gelben Flyern reicht der Kontrast und so landen am Ende alle auf der Seite der FDP. Digitalisierung First, Bedenken second. Es ist beinah der einzige Moment von kurzer Heiterkeit im Saal.
Die Ampel muss auch Optimismus wagen
Natürlich bemühen sich die anwesenden Ampelfrauen und -männer um Optimismus, vielen sieht man die Erleichterung an, es am Ende vollbracht zu haben. Es sei gerade in dieser Zeit der Angst und Verunsicherung so wichtig, wie Habeck betont, dass es "wenigstens ab und zu ein Zeichen des Mutes und der Zuversicht" gebe. Ein solches Zeichen hätten sie mit dem Dokument heute vorlegen wollen.

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Bevor die Ampel sich jedoch um die Digitalisierung des Landes und die Dekarbonisierung der Wirtschaft kümmern kann, muss sie Corona besiegen, muss sie ein Staatsversagen beenden, an dem sie in den zurückliegenden Wochen und Monaten nicht ganz unbeteiligt war. Scholz, bislang auf strategischem Tauchgang, muss jetzt Farbe bekennen. Das Zagen und Zögern der letzten Wochen könnte sich für die Ampel schon jetzt zu einer Hypothek auszuweiten.
Nur wenige trauen der Ampel zu, Corona einzudämmen
Denn es droht nicht nur ein weiterer deprimierender Corona-Winter. Mit den steigenden Zahlen sinkt auch das Vertrauen der Menschen in die politisch Handelnden. Das gilt explizit auch für die Ampel-Parteien. Einer Forsa-Umfrage zufolge glauben gerade mal 13 Prozent, dass die SPD dazu in der Lage ist, die Pandemie einzudämmen. Der FDP trauen das fünf, den Grünen sogar nur drei Prozent zu. Immerhin: Scholz nutzt den Auftritt heute für ein Signal der Entschlossenheit, wiederholt noch mal die bereits im Grundsatz beschlossene Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen – und schließt auch eine allgemeine Impfpflicht ausdrücklich nicht aus, sollte sich die Corona-Lage nicht bald wieder entspannen.
Im Kern werfen die Infektionszahlen in den kommenden Wochen eine brisante Frage auf: Wer soll eigentlich glauben, dass Olaf Scholz und seine selbsternannte Fortschrittskoalition die Menschheitsaufgabe Klimakrise in der Zukunft lösen kann, wenn sie sich in der Gegenwart einer vierten Corona-Welle verzettelt?