Wie ernst die Lage aus Sicht der Bundeskanzlerin sein muss, lässt sich bereits am Modus der Runde festmachen: Erstmals seit Monaten kehren die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder persönlich im Kanzleramt ein, um sich an diesem Mittwoch gemeinsam mit Angela Merkel (CDU) über das Infektionsgeschehen in Deutschland zu beugen. Es gibt viel zu besprechen, ein Bund-Länder-Treffen per Videoschalte, wie bisher, scheint nicht angemessen.
Seit Wochen meldet das Robert-Koch-Institut (RKI) wieder steigende Fallzahlen, zuletzt hat Deutschlands oberste Seuchenschutzbehörde mehr als 5000 Neuinfektionen in Deutschland innerhalb eines Tages gezählt – eine Wegmarke, die zuletzt im April gerissen wurde. Darüber hinaus entwickeln sich immer mehr Gebiete in Deutschland zu Hotspots, die den Warnwert von 50 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen überschreiten.
"Ich beobachte mit großer Sorge die erneut ansteigenden Infektionszahlen eigentlich in fast allen Teilen Europas", sagte Merkel am Dienstag in einer Videoansprache vor dem europäischen Ausschuss der Regionen. Und setzte wohl auch den Ton für die heutige Corona-Runde, verbunden mit einem eindringlichen Appell: "Viele Menschen haben ihr Leben verloren, und deshalb ist es umso wichtiger, dass wir jetzt dafür Sorge tragen, dass nicht ein weiterer Lockdown vonnöten sein wird."
Einen weitestgehenden Stillstand von Wirtschaft und Gesellschaft gilt es zu verhindern, darin sind sich Merkel und die Ministerpräsidenten einig. Wie das selbst ausgegebene Ziel erreicht werden soll, wird ein Thema des heutigen Treffens sein. Die Kritik an einem "Flickenteppich" unterschiedlicher Regeln ist in diesen Tagen lauter geworden, beim umstrittenen Beherbergungsverbot liegen die Länder zum Teil über Kreuz – die einen wollen es, die anderen nicht. Gelingt eine einheitlichere Linie?
Die Bundeskanzlerin sucht die persönliche Begegnung
Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) sprach von einer Debatte von "historischer Dimension", liege es aktuell noch in der eigenen Hand, das Infektionsgeschehen positiv beeinflussen zu können. Mit großen, gar "historischen" Beschlüssen, ist jedoch nicht zu rechnen – zumindest lässt sich im Vorfeld deutliches Stirnrunzeln vernehmen.
Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) versah das Treffen in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ) mit dem Etikett "Aktionismus", hätte die "hektische Einladung" doch schon im Vorfeld "ziemlich viele seltsame Vorschläge von Politikern außerhalb der Konferenz provoziert". Und auch im Hamburger Rathaus von Peter Tschentscher (SPD) seien eher vorsichtige Erwartungen zu vernehmen gewesen.
Für Merkel, die auf das "physische Präsenzformat" bestanden haben soll, wie die "Bild"-Zeitung berichtete, dürfte es auch darum gehen, ihren Wirkungsbereich auszuweiten. Die Bundeskanzlerin hat in der Corona-Pandemie zwar an Amts- und auch Fachautorität gewonnen, ihr Wort im Kampf gegen das Virus hat Gewicht, doch die Umsetzung der Anti-Corona-Maßnahmen bleibt Ländersache. In der persönlichen Begegnung könnten sich die Chancen für Merkel erhöhen, die wiederholt einen gemeinsamen Schulterschluss der Ländern sucht, auf die Ministerpräsidenten einzuwirken.
Zumal die persönliche Begegnung auch ein offenere Debatte fördern dürfte, die ohne Durchstechereien auskommt. "Es stehen wichtige Entscheidungen an", sagte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) vor der Corona-Runde dem "Spiegel". "Da müssen wir uns persönlich treffen, um auch offen reden zu können. Bei Schalten weiß man nie, wer noch mithört und wo das dann landet."
Darüber wird zu reden sein
Doch die Kanzlerin scheint mit gewissen Erwartungen in die Runde zu gehen, die ab 14 Uhr tagen und anschließend, am Nachmittag, heißt es, in einer gemeinsamen Pressekonferenz die Ergebnisse der Beratungen vorstellen soll. Denn bereits im Vorfeld ist eine Beschlussvorlage des Bundes an die Öffentlichkeit gedrungen, die einige der Streitthemen unter den Ländern tangiert, über die nun die Nachrichtenagentur DPA berichtet, der das Papier vorliege.
Demnach will der Bund etwa eine ergänzende Maskenpflicht und eine Sperrstunde in der Gastronomie einführen, und zwar schon dann, wenn die Zahl der Neuinfektionen bei 35 pro 100.000 Einwohner einer Region binnen sieben Tagen liegt. Auch die Zahl der Teilnehmer bei privaten Feiern sowie bei öffentlichen Veranstaltungen solle spätestens dann beschränkt werden, heißt es. Nähere Details, etwa zum Beginn der Sperrstunde oder zur Gruppengröße bei Privatfeiern, würden in dem Entwurf offen gelassen, so die DPA. Diese dürften in der Corona-Runde zur Debatte gestellt werden.
Und Diskussionsstoff ist reichlich vorhanden. Besonders das Beherbergungsverbot für Reisende aus innerdeutschen Risikogebieten erhitzt die Gemüter (lesen Sie hier mehr dazu). Während etwa Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) und ihr Amtskollege in Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann (Grüne), die Regelung verteidigten, wollen Rheinland-Pfalz (Malu Dreyer, SPD) und Sachsen (Michael Kretschmann, CDU) auf eine entsprechende Maßnahme verzichten.
Derweil fordert Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) bundeseinheitliche Bußgelder von 250 Euro bei Verstößen gegen die Maskenpflicht. In Bayern gilt der Regelsatz bereits. Bisher gilt eine Maskenpflicht vor allem in Bussen und Bahnen sowie in Geschäften. Bislang droht denjenigen, die dort keine Mund-Nasen-Bedeckung tragen, in 15 von 16 Bundesländern ein Bußgeld – nur Sachsen-Anhalt (Reiner Haseloff, CDU) verzichtet bislang auf diese Maßnahme.
Der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten dürfte der Gesprächsstoff bei der heutigen Runde nicht ausgehen.