Tiergartenmord-Prozess Wie ein Mordurteil für Baerbock zur ersten außenpolitischen Feuerprobe wird

Annalena Baerbock
Annalena Baerbock zeigt als neue Außenministerin klare Kante gegen Russland
© Hannibal Hanschke / DPA
Ein Fall wie aus einem Spionageroman wird für die neue Außenministerin zur ersten großen Herausforderung. Dabei stehen nicht weniger als die deutsch-russischen Beziehungen auf dem Spiel.

Annalena Baerbock ist erst seit einer Woche in ihrem neuen Job als Außenministerin und steht bereits vor der ersten großen Bewährungsprobe. Grund dafür ist das Urteil im sogenannten "Tiergartenmord"-Prozess, das am Mittwoch in der Hauptstadt gewaltige Wellen schlug. Nach Überzeugung des Gerichts hatte der angeklagte Russe im August 2019 mitten in der Berliner Parkanlage Kleiner Tiergarten einen Georgier tschetschenischer Abstammung erschossen – im Auftrag staatlicher russischer Stellen. Der Vorwurf lautet auf nichts Geringeres als "Staatsterrorismus" von russischer Seite – in einer Phase, in der die deutsch-russischen Beziehungen durch die Ukraine-Krise bereits mehr als angespannt sind.

Doch die neue Außenministerin verlor keine Zeit. "Dieser Mord auf staatliche Anordnung – wie heute vom Gericht bestätigt – stellt eine schwerwiegende Verletzung deutschen Rechts und der Souveränität der Bundesrepublik Deutschland dar", sagte Baerbock in einem Statement und erklärte umgehend zwei Mitarbeiter der russischen Botschaft zu "unerwünschten Personen". Ein Schritt, der einer Ausweisung der Diplomaten gleichkommt. Der russische Botschafter Sergej Netschajew sprach daraufhin von einem "offensichtlich unfreundlichen Akt, der nicht unerwidert bleibt" und bezeichnete den Vorwurf einer Beteiligung Russlands als "absurd".

Russland-Experte: Urteil politisch enorm brisant 

"Das war Staatsterrorismus", urteilte hingegen der Vorsitzende Richter Olaf Arnoldi am Mittwoch. Die Tat sei "nichts anderes als Rache und Vergeltung" gewesen. Für Russland-Experte Manfred Sapper ist das Urteil politisch enorm brisant. Die Beweislage, von der die Öffentlichkeit bislang kaum etwas wisse, müsse erdrückend sein, sonst hätte der Richter nicht so ein starkes Wort gewählt, ist sich der Chefredakteur der Fachzeitschrift "Osteuropa" sicher. Auch der Politologe Stefan Meister sieht das Urteil als "weiteren Baustein in sich seit Jahren verschlechternden deutsch-russischen Beziehungen". Es zeige, dass der russischen Führung die Beziehungen zu Deutschland egal sind und man bereit ist, das Verhältnis weiter zu eskalieren, sagt der Experte von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) dem stern.

Hier musste Außenministerin Baerbock klare Kante zeigen und Russland in die Schranken weisen. Auch wenn der erschossene Georgier, der während des zweiten Tschetschenien-Krieges eine Miliz gegen Russland anführte, selbst Menschen auf dem Gewissen haben sollte – rechtfertigt das keine Selbstjustiz russischer Geheimdienste auf deutschem Boden. 

Richter Arnoldi wies bei der Urteilsverkündung zudem darauf hin, dass das Opfer seit langem im Visier Russlands gestanden habe. Vom russischen Präsident Wladimir Putin wurde der Georgier später öffentlich als "Bandit", "Mörder" und "blutrünstiger Mensch" bezeichnet. Die unterlassene Hilfe bei der Aufklärung des Falles wertete das Gericht als einen weiteren Aspekt unter einer "Vielzahl schlagkräftiger Indizien" dafür, dass der Auftrag zur Tötung aus Russland kam.

Dabei sei das Urteil nur eine neutrale, juristische Beglaubigung dessen, was wir politisch schon längst wüssten, sagt Experte Sapper. "Wir sind mit einer Radikalisierung des Putinismus konfrontiert."

Deutsch-russische Beziehungen in der Krise

Seit Russlands Einnahme der ukrainischen Krim im Jahr 2014 haben sich die deutsch-russischen Beziehungen immer weiter verschlechtert. Dafür sorgte der bisher größte Cyber-Angriff von russischen Hackern auf den Bundestag 2015, die Vergiftung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny sowie der aktuelle Aufmarsch russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine. Für Russland-Experte Sapper steht fest: "Nicht das Urteil, sondern die Tat an sich, wird die deutsch-russischen Beziehungen weiter belasten."

Damit liegt die Verantwortung nicht nur bei Außenministerin Baerbock, sondern bei der gesamten Bundesregierung. "In der Ampel blinken derzeit zwei Lampen gleichzeitig, das klappt an keiner Ampel", erklärt Sapper. Es gebe zwei sich gegenseitig ausschließende Strömungen: die an Werten und Recht orientierten Kräfte, wozu Grüne und die "Lambsdorff-FDP" gehören würden, sowie die an wirtschaftlichen Interessen- und Nostalgie orientierten Kräfte – inklusive Scholz und Teilen der SPD. Die große Frage sei deshalb, wie vor allem der neue Bundeskanzler reagiert.

Dieser wiederum stärkte Baerbock den Rücken. Der Richterspruch sei "eine klare Auskunft darüber, dass hier schlimme Dinge passiert sind, und deshalb ist es auch völlig richtig, dass die Außenministerin darauf mit einer klaren Antwort reagiert hat", sagte Olaf Scholz am Donnerstag vor seinem ersten EU-Gipfel in Brüssel. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow wies den Vorwurf einer Beteiligung Russlands zwar "entschieden" zurück, hofft aber, dass sich der Fall nicht negativ auf die politischen Beziehungen auswirke. Dabei könnten die faktischen Diplomaten-Ausweisungen erst der Anfang sein.

Ausweisungen "wichtig, aber zu wenig"

Schon während des Ermittlungsverfahrens im "Tiergartenmord"-Prozess hatte die Bundesregierung 2019 zwei russische Botschaftsmitarbeiter wegen mangelnder Kooperationsbereitschaft ausgewiesen. Moskau drehte den Spieß um und schickte seinerseits zwei Diplomaten zurück nach Deutschland. Diesmal könnte es sogar noch weitergehen, das russische Außenministerium hat bereits "Vergeltungsmaßnahmen" angekündigt.

Als "wichtigen Schritt, aber zu wenig" beurteilt Politologe Meister daher die Ausweisungen von Außenministerin Baerbock. "Das wird die russische Führung nicht abschrecken, in Deutschland wieder Personen töten zu lassen", sagt der DGAP-Experte. Besser wäre eine konzertierte Aktion von Ausweisungen mit europäischen Partnern – eine Meinung, die auch "Osteuropa"-Chefredakteur Manfred Sapper teilt. Er vermutet, dass die erdrückende Faktenlage diesmal selbst den Druck auf andere EU-Staaten erhöht und könnte damit recht behalten. Beim EU-Gipfel am Donnerstag zeigte sich der luxemburgische Premierminister Xavier Bettel bereits offen für eine europäische Reaktion auf das "Tiergartenmord"-Urteil.

Fest steht, das Urteil erhöht schon zu Amtsbeginn den Druck auf die neue Außenministerin. Um ihre erste Feuerprobe zu bestehen, wird Baerbock laut Politologe Meister neben klaren Worten auch Pragmatismus im Umgang mit Russland brauchen – ohne gleichzeitig zu große Erwartungen für eine Verbesserung der Beziehungen zu haben. Denn diese sind bereits am Tiefpunkt.