Händchenhalten auf der Straße ist ein wenig aus der Mode gekommen, gerade wenn man es mit vielen tausend anderen und zu politischen Zwecken machen will. "Geht das heute überhaupt noch", fragten sich Jochen Stay und die anderen Organisatoren der 120 Kilometer langen Menschenkette, die am Samstag die Atomkraftwerke Krümmel und Brunsbüttel verbinden soll. Sie hatten keine Ahnung. Und waren ein wenig überrascht, als bei den Probeketten in Berlin und anderswo sich junge Leute mit fröhlichen Gesichtern aneinanderreihten. "Glück gehabt", dachte Stay. Der leicht ergraute Aktivist war 1983 als idealistischer Teenager dabei, als es nicht gegen die Atomenergie ging, sondern gegen die von der NATO geplanten neuen Raketen. Damals wurden die Menschenketten erfunden; zu Hundertausenden standen die Friedensfreunde auf der Straße. Ein Hauch davon soll am Samstag wieder zu spüren sein.
Doch mit dem modernen Protestvolk scheint Stay ein wenig zu fremdeln. "Eine Sache, die sich stark verändert hat, ist die Individualisierung", erzählt er im Büro des Anti-Atom-Vereins "ausgestrahlt" in einem Hamburger Gewerbegebiet. "Früher sahen sich die Leute jede Woche bei irgendeiner Veranstaltung. Heute erreicht man sie über das Internet." Das klappt prima, bringt aber viele Unwägbarkeiten.
Stehlen die Politiker den Aktivisten die Show?
Stays Tochter hat bei SchülerVZ eine Gruppe eingerichtet für die Aktion am Samstag zum 24. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe. "Da machen mehr als 1000 mit", sagt der Vater staunend. Aber ob die auch alle zur Kette zwischen den Problemreaktoren in Krümmel und Brunsbüttel kommen? Niemand weiß es. Sicherheitshalber redet Stay daher lieber von einer "Menschen- und Aktionskette" - da ist es nicht ganz so peinlich, wenn irgendwo doch eine Lücke klaffen sollte und da dann ein paar Trecker auf- und abfahren. Um hier und da ein paar fehlende Meter zu überbrücken, liegen viele bunte Bänder bereit. Allein darauf wollten die Aktivisten nicht vertrauen. Damit überhaupt genug Leute kommen, haben sie die SPD, die Grünen und die Linke mit ins Boot geholt.
Das hat seinen Preis: Die Atomkraftgegner fürchten, dass ihnen Parteipromis wie Sigmar Gabriel und Jürgen Trittin die Show stehlen und am Abend die Berichte in der Tagesschau dominieren. Ausgerechnet Gabriel und Trittin; zwei ehemalige Bundesumweltminister, die im Amt mit der Atomwirtschaft mehr oder weniger zusammen gearbeitet haben.
"Die Leute sind extrem spontan"
Dabei sollte doch eigentlich die Masse der Star sein. Genauer gesagt, der Einzelne in der Masse. Vor ein paar Monaten hatten die Organisatoren noch vor, dass jeder auf der Strecke sich ein Plätzchen reservieren und mit seinem Bild auf der Internetseite markieren kann. Nur wurde nichts daraus. "Die Leute sind extrem spontan und kurz entschlossen", berichtet Stay. "Das hätte bis kurz vor dem Tag x so ausgesehen, als würde keiner kommen." Beim Klimagipfel in Kopenhagen hat er zuletzt erlebt, dass sich erst niemand meldet und dann tauchen doch solche Horden auf, dass die schon beinahe abbestellten Busse nicht reichen. Es ist paradox: Offenbar haben die neuen Kommunikationsmöglichkeiten die Vorhersagen über das tatsächliche Verhalten der Menschen eher erschwert.
Wer alles über die Kette 2010 erfahren will, kann das in Minutenschnelle tun. Er muss nur auf die Internetseite anti-atom-kette.de und die verlinkten Angebote der verschiedenen Gruppen klicken. Schon wird er mit Informationen überflutet. Da steht, aus welcher Region man in welchen Abschnitt fahren soll. Wie man einen Bus organisiert (Fahrkarten zum Herunterladen inklusive). Wo die Sammelpunkte sind. Die Streckenkarte gibt es mal mit mehr, mal mit weniger Details. In Foren der Veranstalter verbreiten Atomkraftgegner mit putzigen Usernamen ebenso Kluges wie Banales.
Organisatoren nutzen SMS und Twitter statt Mundpropaganda
Am Samstag gehen per SMS alle Nachrichten und Daten zwischen der Zentrale und den Sammelpunkten hin und her, die nur einen Kilometer voneinander entfernt sind. Wer ein internetfähiges Handy hat, kann den Liveticker verfolgen und per Twitter selbst Nachrichten an die anderen schicken. Jeder wird alles wissen. Gesprochen werden muss dazu eigentlich nicht mehr viel.
Die Organisatoren der legendären Menschenkette von Stuttgart nach Neu-Ulm hatten 1983 dagegen kein Handy, kein Twitter, kein Facebook, keine GPS-Daten für die Sonderbusse, keine Email-Verteiler. Die Fäden zogen Männer wie der Karlsruher Sonderschullehrer Ulli Thiel. Der "Vater der Menschenkette" schaffte es - gemeinsam mit vielen anderen -, dass Hunderttausende eine 108 Kilometer lange Kette von Stuttgart nach Neu-Ulm bildeten.
Früher kommunizierten die Organisatoren mit Rundbriefen - und Luftballonen
"Man musste mit den Leuten telefonieren, die kannte man ja", sagt Thiel, der sich sehr gern an die großen Tage erinnert. "Wir haben auch Rundbriefe verschickt an die Initiativen. Darin standen die wichtigsten organisatorischen Sachen. Die Adressaten sind dann mit dem Kettenbrief in die Treffen vor Ort gegangen." Penibel wurden einzelne Regionen Deutschlands den 20 Orten an der Strecke zugeordnet.
Dort verteilten am Tag der Demonstration Friedensfreunde Luftballons in verschiedenen Farben: Um 12 Uhr marschierten alle mit roten Ballons in die eine Richtung, die mit den blauen in die andere. Ob die Kette zwischen den Orten geschlossen war, erfuhren die Demonstranten aus Transistorradios. Darin liefen die Nachrichten des Südwestfunks, die dann den Kettennachbarn weiter erzählt wurden.
Das unablässige Sprechen in Gruppen gehörte Anfang der 80er ohnehin zum Protest wie der Sprengkopf zur Rakete. Es war ein einziges Palaver - bei dem sich erst im Nachhinein herausstellte, wie fürsorglich es von der DDR mit Geld und anderen diskreten Hilfen unterstützt worden war. Es war wirklich nicht alles besser. Aber ziemlich anders.