Still liegt Brokdorf in der Mittagssonne. Auf dem Deich grasen Schafe und auf den Wiesen vor dem Kernkraftwerk dösen schwarz-weiße Kühe vor sich hin. Wilstermarsch-Idylle, wie sie Dickie Hoppenstedt schon Weihnachten 1978 als Minibausatz auf seinem Gabentisch bestaunen konnte. In dem Loriot-Sketch strahlte das AKW, das Opa Hoppenstedt seinem Enkel geschenkt hatte, genauso unschuldig vor sich hin wie das ganz reale AKW Brokdorf im Mai 2011. Doch spätestens vom 11. Juni an dürfte es vorbei sein mit der Beschaulichkeit in der schleswig-holsteinischen Provinz. Dann werden über der weißen Kuppel des Reaktors vermutlich Hubschrauber kreisen, im Dorf werden Polizeisirenen heulen, und statt Kühen werden auf den Wiesen Wasserwerfer stehen. Denn: "Wir werden tagelang mit Tausenden Leuten die Zufahrtswege zum AKW aktiv versperren", kündigen die Aktivisten von "x-tausendmal quer" an. Für die Atomkraftgegner ist das ein notwendiger "Akt des zivilen Ungehorsams", denn den vagen Atomausstiegsplänen der Regierung trauen sie nicht über den Weg.
Deutschlandweite Aktionen geplant
Das etwas umständlich formulierte Ziel der bundesweiten Anti-AKW-Initiativen ist die "Wiederinbetriebnahme der im Rahmen des Moratoriums vorübergehend abgeschalteten Atomkraftwerke oder sich in Revision befindlicher AKW zu verhindern." Mit ihrer Blockade wollen die Aktivisten das auch in Brokdorf erreichen. Tatsächlich erwischen sie Kraftwerksbetreiber Eon dann an seiner Achillesferse. Während der Revision müssen täglich zusätzlich rund 1000 Mitarbeiter auf das Gelände und wieder hinaus. Dutzende Materialtransporte werden erwartet. Eon-Sprecherin Petra Uhlmann: "Wir haben überhaupt nichts gegen friedliche Demonstranten. Aber wenn dazu aufgerufen wird, die Revision zu behindern und uns einen wirtschaftlichen Schaden zuzufügen, dann werden wir alle rechtlichen Schritte dagegen prüfen." Denn jede Verzögerung kostet Eon viel Geld.
Die Fronten sind klar und es scheint, als kündige sich ein "heißer Sommer" an. Im ganzen Land sind ungezählte Aktionen geplant, um die Bundesregierung von einem sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie zu "überzeugen". Auftakt für den Widerstand waren Großdemos, die an diesem Samstag in 21 Städten, unter anderem in Hamburg, Berlin, Dresden, München und Frankfurt stattfanden. Mehr als 160.000 Menschen kamen. Jochen Stay von der Initiative "ausgestrahlt" sagt: "Wir demonstrieren einen Tag, bevor sich die Spitzen der Koalition über die Zukunft der Atomkraftwerke verständigen wollen. Denn wir wollen deutlich machen: Das, was die Koalition bisher plant, ist kein konsequenter Atomausstieg, sondern der unverantwortliche Weiterbetrieb gefährlicher Reaktoren für mehr als ein Jahrzehnt." Ein absolutes No-Go für die Anti-AKW-Bewegung.
Gut organisierte Anti-Atom-Bewegung
Dass sie gerade eine unglaubliche Renaissance erlebt, zeigte sich schon bei den Castorprotesten im vergangenen Herbst im Wendland, bei den Ostermahnwachen vor mehreren AKWs und bundesweiten Demos vor einigen Wochen. Allein in Hamburg hatten sich 50.000 Atomkraftgegner daran beteiligt. Im Internet wird seitdem für regionale Projekte geworben, es werden Kontakte zu Gruppen im Ausland hergestellt, Spenden gesammelt und Absichtserklärungen - auch für die Teilnahme an den Juni-Blockaden in Biblis und Brokdorf.
Schon seit einiger Zeit sind Emissäre des Widerstands in der Wilstermarsch unterwegs, um Quartiere für die Brokdorf-Belagerer zu suchen und natürlich die Wege zum AKW zu checken. Eine logistische Herausforderung, denn das Kraftwerk erinnert an eine Festung. Umgeben von einem breiten Wassergraben und geschützt von einem hohen Stacheldrahtzaun steht es da und ist nur über eine schmale Zufahrtsstraße zu erreichen. Noch geht es offensichtlich entspannt zu: Ein Werkschützer schaut eher gelangweilt auf diejenigen, die sich seinem Reich nähern.
Blockaden sind quasi illegal
Im Juni wird das Gelände von Dutzenden schwer bewaffneten Polizisten bewacht sein. Denn die Blockaden sind nicht als polizeilich genehmigte "öffentliche Meinungsäußerung" angemeldet, sondern sind quasi illegal. In der zuständigen Polizeidirektion Itzehoe gehen die Beamten die heikle Angelegenheit dennoch diplomatisch an. Die Blockade an sich sei nicht das Problem, meint Polizeisprecher Hermann Schwichtenberg. Es müsse eben nur ein Weg gefunden werden, sie so zu gestalten, dass daraus nicht eine Straftat werde.
Ganz praktisch heißt das: Wer sich länger als erlaubt am AKW "niederlässt", muss damit rechnen, von der Polizei beiseite geräumt zu werden. Die Atomkraftgegner wollen sich davon allerdings nicht beeindrucken lassen. In einer Erklärung von "x-tausendmal quer" heißt es: "Gesetze und Vorschriften, die einem reibungslosen Wiederanfahren der AKW dienen, werden wir bewusst nicht beachten. Wir werden die Zufahrtsstraßen nicht freiwillig verlassen, weil wir im Wissen unter anderem um das atomare 'Restrisiko' und die ungelöste Entsorgungsfrage unsere Aktion als legitim und notwendig erachten."
Seit fast 35 Jahren gibt es in Brokdorf Demonstrationen
In dem kleinen, nur rund 1000 Seelen zählenden Örtchen macht sich schon jetzt einiges Unbehagen breit, Erinnerungen werden wach. Schon als am 26. Oktober 1976 um ein Uhr nachts die ersten Bautrupps anrollten und begannen, die Grundlagen für das künftige AKW zu schaffen, mussten "starke Polizeikräfte" die Arbeiten sichern. Am 13. November lieferten sich Atomkraftgegner stundenlange Schlachten mit der Polizei. Die Nachrichten sprachen von einer "Auseinandersetzung von unfassbarer Brutalität". Die Bilder von Wasserwerfern, Hubschraubern, Hunden, Steinen, Tränengas, knüppelnder Polizei und unzähligen verletzten Demonstranten veränderten die Republik. Gegen Atomkraft zu kämpfen wurde "in". Am 19. Februar 1977 demonstrierten rund 70.000 Leute gegen das AKW. 1981 kamen trotz Demoverbot 100.000 Atomkraftgegner nach Brokdorf. Genau so viele wie im Juni 1986. Anderthalb Monate nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl ging das AKW trotzdem in Betrieb. Die Menschen waren außer sich. Doch das ist lange her.
Brokdorf bereitet sich vor
Erst als die Atomkraftgegner vor ein paar Tagen vor seiner Tür standen und erzählten, was sie vorhaben, rückte die Randale-Vergangenheit wieder ins Bewusstsein von Bürgermeister Werner Schulze (CDU). Der Brokdorfer Gemeindechef hofft zwar, dass "alles nicht so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird". So ganz traut er dem Frieden aber nicht. Er sagt: "Es hat ja jeder das Recht, seine Meinung zu sagen. Aber wir wollen hier keine Gewalt." Viele im Dorf haben Angst vor möglichen Ausschreitungen - und einige verteidigen das AKW. Auch weil sie auf das Geld angewiesen sind, das sie im Kraftwerk verdienen. "Wir wissen, dass sich längst viele Leute in der Gegend mit den Verhältnissen arrangiert haben", gesteht Christoph Kleine von "Block Brokdorf" ein. Sympathie und vor allem Solidarität, wie sie im Wendland Tradition ist, wird hier kaum zu erwarten sein. Ein Rasen mähender Hausbesitzer mitten im Dorf macht das deutlich. "Wenn die Chaoten kommen, mach ich den Hund los", erklärt er.
Aber es gibt auch Unterstützer. Und auf die zählen die Aktivisten. An der Landstraße kurz vor dem Ortseingang steht ein Auto mit Hamburger Kennzeichen. An einem Seitenfenster weht eine "Atomkraft - Nein Danke!"-Fahne. Spätestens am 10. Juni soll hier irgendwo das Camp seinen Betrieb aufnehmen, in dem die Blockierer sich vom Widerstand erholen wollen. Vielleicht kommt ja der eine oder andere Brokdorfer mal abends vorbei und schaut sich mit den Protestlern die Loriot-Szene an, in der die Spielzeugverkäuferin Opa Hoppenstedt sagt, dass das AKW auch explodieren kann , wenn man einen Fehler macht: "Es macht puff und die Kühe fallen um und die kleinen Häuser und Bäume. Da ist dann immer ein großes Hallo und viel Spaß."