Da war nichts Unüberlegtes. Da war kein Zufall und kein Zorn im Spiel. Als Norbert Röttgen, der parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion und rechte Hand von Fraktionschef Volker Kauder, am Dienstagmorgen in Berlin loslegt, ist jeder Satz wohl bedacht - und die Wirkung bezweckt. Nein, bei der Debatte um eine Verlängerung der Auszahlung von Arbeitslosengeld I gehe es nicht um eine Kleinigkeit, nicht um eine von vielen Stellschrauben. "Wer das glaubt, ist naiv." In Wahrheit gehe es um einen klaren, einen unmissverständlichen "Kurswechsel" der SPD. Und um die "Aufkündigung der eigenen Position in der Großen Koalition". Konzeptionell und koalitionspolitisch.
Bislang, so der Mitautor des CDU-Wahlprogramms 2005, habe die Große Koalition ihre Legitimation daraus gezogen, langfristige, zukunftsorientierte Politik zu machen. Beschlüsse wie die Rente mit 67, Beschlüsse, die keiner allein und nur beide zusammen tragen könnten. Jetzt aber rücke die SPD von dieser Koalitionsräson ab mit ihren Versuchen, die Agenda zu revidieren. Die SPD wechsle so ihre Rolle, von der Verantwortung für den Staat zum Primat des Parteiinteresses. Röttgens Fazit: "Auf diese Weise macht sich die SPD zum Juniorpartner", der nicht mehr die Kraft habe, "auf gleicher Augenhöhe Verantwortung zu tragen. Deshalb müsse die Union die Führung übernehmen und dürfe sich nicht auf "palliative Sozialpolitik" a la SPD einlassen. "Becks Vorschläge machen nichts besser, sie verlängern nur die Situation. Wir müssen in Arbeit investieren, nicht in Arbeitslosigkeit."
Zwei Parteien, zwei Krisen
Röttgens Auftritt ist eine Abkehr von der Unionslinie der vergangenen Wochen. Bislang lauschte man im Kanzleramt und in der CDU-Spitze dem anwachsenden Streit in der SPD-Führung durchaus genussvoll, nach dem Motto: Jeder schwächt sich selbst so gut er kann. Jetzt aber wächst die Sorge, dass aus Kurt Becks Kurswechsel größere Gefahr erwachsen könnte - erst für den Frieden in der Union, dann für den in der Koalition - und schließlich für die Union in allen kommenden Wahlkämpfen. Seitdem die Beck-SPD Unionsthemen wie die Online-Durchsuchungen auf Eis legt, eigene Themen wie die Verlängerung von ALG I, Ausnahmen bei der Rente mit 67 oder eine Fortsetzung der Frühverrentung aber immer lauter propagiert, wächst in den Reihen der Union der Zorn. Auch um dem ein Ventil zu geben, hat Röttgen nach Absprache mit dem Fraktionsvorstand zum Angriff geblasen.
Damit freilich schliddern beide Parteien der Großen Koalition in eine Rechtfertigungskrise. Die CDU, weil ihr eigener Partei-Vize Jürgen Rüttgers schon vor einem Jahr eine Verlängerung der Auszahlung des Arbeitslosengeldes I gefordert und auf dem Parteitag in Dresden - wenn auch unter etwas anderen Bedingungen - durchgesetzt hat. Und die SPD, weil Kurt Beck einst gegen Rüttgers mit exakt den Worten wetterte, die heute die Union gegen Kurt Beck ins Felde führt. Beck hatte am 11. November 2006 in einem Interview erklärt: "Unser Anspruch muss sein, dass Menschen schnell wieder in Arbeit kommen. Nicht, dass Arbeitslose etwas länger und besser in Arbeitslosigkeit leben können."
In der Großen Koalition steigt die Temperatur. Und zwar deutlich.