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Sozialstaat Die halbe Republik diskutiert über Armut - sie belügt sich dabei selbst

Armut: Obachlose an einer Essensausgabe, Jens Spahn
Die unter anderem von Jens Spahn (r.) befeuerte Diskussion um Armut führt am Ziel vorbei, sagt stern-Autor Walter Wüllenweber
© W. G. Allgoewer/Picture Alliance, Kay Nietfeld/DPA
Deutschland ist reich - trotzdem diskutiert die halbe Republik seit Wochen über Armut im Land und lügt sich dabei selbst in die Tasche. Drei Thesen, warum unser Sozialstaat eine Erfolgsgeschichte ist.
Von Walter Wüllenweber

Zuerst mal eine gute Nachricht: Noch nie waren die Armen in Deutschland so reich wie heute. Klingt zynisch, ist aber die Wahrheit. Wer die hysterische Debatte um die Tafeln verfolgt, um die Hartz-IV-Sätze und die Äußerungen des rechten Lautsprechers Jens Spahn, bekommt leicht den gegenteiligen Eindruck: Deutschland ist ein Elendsgebiet, in dem Millionen Arme, vom Staat und ihren Mitmenschen vergessen, jeden Abend hungrig zu Bett gehen.

Wer nach drei Wochen öffentlicher Schnappatmung jetzt Lust hat auf weniger Aufregung dafür aber mehr Einordnung, der mag sich womöglich mit folgenden drei Behauptungen auseinandersetzen. Ja, ich weiß, das ist ein abgebrühter, akademischer Ansatz, aber Gackern und Flügelschlagen hatten wir bei dem Thema schon genug. Also:

1. Der deutsche Sozialstaat ist eine der größten Erfolgsgeschichten unserer Zeit

Die Diskussion um die angemessene Höhe der Stütze hat nicht erst mit den Berichten über die Essener Tafel begonnen. Die Debatte ist auch älter als die Hartz-Reformen, älter als Jens Spahn, älter als der Vater der Hartz-Gesetze, Gerhard Schröder, älter sogar als die Bundesrepublik. Der Regelsatz-Streit ist die große Konstante in der politischen Auseinandersetzung in Deutschland quer durch alle Systeme.

Schon im 19. Jahrhundert verhandelten Politiker, Wissenschaftler und Wohlfahrtsverbände über das angemessene Existenzminimum. Den ersten Regelsatz, also den Urahn des heutigen Hartz-IV-Satzes, gab es bereits 1898: Wöchentlich drei Mark für das Familienoberhaupt und 2,50 Mark für "die beim Manne lebende Ehefrau". Kein anderes Volk auf der Welt hat eine ähnlich lange Erfahrung mit der Berechnung von Regelsätzen und der Zusammenstellung von Warenkörben wie der deutsche Sozialstaat.

Die Listen, in denen aufgeführt wird, was Bedürftigen mindestens zusteht, sind ein Spiegelbild ihrer Zeit. In den 1970er Jahren hielt das Sozialamt für Frauen unter anderem den Besitz von sieben Schlüpfern, zwei Büstenhaltern und zwei Hüfthaltern für angemessen. Das Recht auf eine Zweithose für Männer musste damals noch vor den Sozialgerichten erstritten werden. In den 80er Jahren kamen zur Mindestversorgung Dinge wie ein Fahrrad, ein Radio, ein Fernseher oder "wöchentlich 100 Gramm Eiscreme, Fürst-Pückler-Art" dazu. Im Warenkorb des Existenzminimums lag jedes Jahr etwas mehr.

Auch diejenigen, die auf Leistungen des Sozialstaates angewiesen sind, haben also an der Vermehrung des Wohlstandes sehr wohl teilgenommen. Wer glaubt, die Auseinandersetzung um die Frage, was der Mensch zum Leben braucht, sei ein neues Thema, hat 120 Jahre ernsthafte und fundierte Debatte verpasst.

Das Wirtschaftswunder in den 1950er Jahren war der große Wendepunkt in der deutschen Armutsgeschichte. Damals gelang dem deutschen Sozialstaat etwas, was zuvor als absolut unerreichbar galt: Hunger und existenzgefährdende Not wurden in der Bundesrepublik abgeschafft, endgültig. Dass zum Bild der Armut heute ganz selbstverständlich eine eigene Wohnung gehört, ausreichend zu Essen, Schulbücher, Kinobesuche und eine der besten Gesundheitsversorgungen, die man für Geld kaufen kann, ist ein fantastischer Erfolg des deutschen Sozialstaates. Es gibt wenig, auf das die Deutschen mit so viel Berechtigung stolz sein dürfen.

Populisten von rechts und links versuchen seit Jahren systematisch, den Sozialstaat, das große Gemeinschaftswerk der Deutschen, als gescheitert und unmenschlich darzustellen. Natürlich sind die Sozialsysteme an vielen Stellen ineffizient, ungerecht und müssen weiter verbessert werden - wie in den vergangenen 120 Jahren auch. Aber mit Ausnahme von Norwegen und Schweden ist es immerhin der beste Sozialstaat, den es in der Menschheitsgeschichte jemals gab.

2. Wie groß ist die Armut? Die Tafeln vermitteln ein falsches Bild von der sozialen Realität im Land

Die Bilder von den Tafeln, von Menschen, die nach gespendeten Nahrungsmitteln anstehen, sie scheinen der Erfolgsgeschichte des Sozialstaates zu widersprechen. Die Bilder sind emotional, wirkungsvoll - und irreführend. Dass jemand ein Geschenk annimmt, beweist exakt nichts. Wenn Unternehmen auf Messen teure Kugelschreiber verteilen oder bedruckte Kaffeetassen oder T-Shirts oder Sonnencreme, greifen viele Leute zu. Das ist aber kein Beweis dafür, dass sie sich keine Kugelschreiber leisten können.

Die Tafeln sind nicht aus einem Mangel entstanden, sondern aus Überfluss. Supermärkte vernichten massenweise überflüssige Nahrungsmittel, die noch problemlos verzehrt werden könnten. Um diesen Frevel zu verhindern, haben sich Gruppen gebildet, die abgelaufene, aber noch verwertbare Lebensmittel gesammelt haben. Die sinnvollste Nutzung des Gesammelten war das Verteilen an Menschen, die wenig Geld haben. Die sparen durch den Tafelbesuch jede Woche ein paar Euro an der Supermarktkasse, die sie für andere Dinge ausgeben können. Eine faire Verteilung des Überflusses, aber kein Indiz für Nahrungsmittelmangel oder gar Hunger unter den Tafelkunden.

Dass in Deutschland niemand existenziell angewiesen ist auf die Tafel beweisen schon die Zahlen: Der Sozialstaat versorgt insgesamt acht Millionen Bedürftige in Deutschland, aber nur 1,5 Millionen besuchen eine Tafel. Die übergroße Mehrheit kommt also auch ohne aus. Und es gibt 25 Jahre nach der Gründung der ersten Tafel ganze Landstriche ohne eine Verteilstelle. Auch da hungert niemand. Besonders in Ostdeutschland ist das Helfernetz in manchen Regionen dünn, obgleich die Bedürftigkeit groß ist. Eine deutliche Konzentration der Ausgabestellen gibt es indes südlich von München, am Starnberger See oder im Hochtaunus, den Villenvororten der Frankfurter Banker, oder rund um Stuttgart. Allein im Rheintal, zwischen Mannheim und Lörrach, einer der reichsten Gegenden Europas, kümmern sich 31 Tafel-Vereine um die Bedürftigen. Tafeln gibt es vor allem dort, wo es engagierte Helfer gibt, aber nicht immer dort, wo die Bedürftigkeit am größten ist.

3. Die Geldfrage ist ein Ablenkungsmanöver, das den Bedürftigen nur schadet

Die Tafeln sind kein Beweis für Hunger und der Sozialstaat hat die existenzielle Not tatsächlich besiegt. Das bedeutet umgekehrt aber nicht, die Regelsätze für die Grundrente und für Hartz IV seien fair. Die Zuwendungen werden zwar regelmäßig erhöht - übrigens stärker als der Durchschnittslohn - bei den jüngsten Angleichungen war die frühere Bundesregierung dennoch zu knausrig. Die Berechnungen für Kinder, ganz besonders für Alleinerziehende, sind fachlich falsch berechnet und zu niedrig. Dabei gibt es keinen vernünftigen Grund für den Geiz.

Würden sämtliche Maximalforderungen der Wohlfahrtsverbände für Hartz IV und Grundrente erfüllt, müsste der neue Finanzminister Olaf Scholz pro Jahr 7,5 Milliarden locker machen. Wie gesagt: das wäre die Luxusvariante. Aber selbst das könnten sich die Steuerzahler leisten. Der Betrag entspricht ziemlich genau der Summe, die dem Finanzminister jedes Jahr entgeht, weil er den Dieselpreis künstlich subventioniert. Es spricht also viel dafür, das zu tun, was seit 120 Jahren Alltag ist im deutschen Sozialstaat: Regelsätze erhöhen.

Aber die sozialen Probleme in Deutschland sind damit nicht gelöst. Alles, was durch das Verteilen von Geld an Hilfe für die Bedürftigen erreicht werden kann, ist bereits erreicht. Die Methode ist ausgereizt. Wer wirklich helfen will, muss weiter gehen. Die heutigen Bedürftigen brauchen vor allem Unterstützung bei der Bewältigung des Lebens. Viele Probleme ballen sich bei den Alleinerziehenden. Die brauchen nicht nur Geld, sondern vor allem eine viel bessere, zuverlässige und natürlich kostenlose Kinderbetreuung. Es gibt ganze Bibliotheken voller Studien, die lückenlos beweisen, dass Investitionen in Kindergärten und Ganztagsschulen die größte Rendite aller öffentlichen Investitionen erwirtschaften. Der Finanzminister kann es sich eigentlich nicht erlauben, auf diese fette Rendite langfristig zu verzichten.

Die zweite große Gruppe sind Hilfsbedürftige, die schlicht überfordert sind mit den Anforderungen der modernen Welt: Alkohol- oder Drogenkranke, psychisch Kranke und Menschen, die das Lernen nie gelernt haben. Bei vielen von ihnen reicht die Stütze auch nach einer deutlichen Erhöhung nicht bis zum Monatsende.

Die beiden wichtigsten sozialen Problemgruppen in Deutschland brauchen also von der Solidargemeinschaft viel mehr als Geld: Eine Ausrichtung der gesamten Hilfesysteme auf ihre Bedürfnisse. Die endlose Debatte über die Regelsätze schadet ihnen dabei nur, denn sie lenkt die Aufmerksamkeit und die Hilfsbereitschaft der Gesellschaft auf einen Nebenaspekt.

Irgendwann wird die Politik dem öffentlichen Druck nachgeben und sich zu einer Erhöhung der Stütze durchringen. Dann wendet sich die Öffentlichkeit erschöpft einem anderen Thema zu. Mit dem befriedigenden Gefühl: Na siehste, geht doch. Wir haben was erreicht für die Benachteiligten in der Gesellschaft.

Ein schöner Selbstbetrug.

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