Bundesforschungsministerin Annette Schavan (CDU) hält seit drei Monaten ein brisantes Gutachten unter Verschluss, das sie selbst in Auftrag gegeben hat. Darin regen rund 100 Forscher unter anderem den Neubau von Atomkraftwerken in Deutschland an. Außerdem werben sie dafür, an anderen Standorten als Gorleben nach atomaren Endlagern zu suchen. Schavan waren die Atomempfehlungen offenbar zu heikel. Obwohl sie die Studie mit dem Titel "Konzept für ein integriertes Energieforschungsprogramm für Deutschland" bereits im Juni erhalten hat, soll diese erst im Oktober vorgestellt werden - nach der Bundestagswahl.
Die Union tritt wie die FDP für längere Laufzeiten von Atomkraftwerken ein. Jedoch wirbt sie im Wahlkampf nicht offensiv dafür. Mit Kernkraft lassen sich kaum Wählerstimmen gewinnen. Seit Monaten versucht vor allem SPD-Umweltminister Sigmar Gabriel, Stimmung gegen die Atompläne von Schwarz-Gelb zu machen. Die Forschungsministerin will SPD und Grünen mit der Studie offenbar keine weitere Munition liefern.
Dieser Artikel wurde übernommen...
... aus der aktuellen Ausgabe der "Financial Times Deutschland"
Erst nach der Bundestagswahl der Öffentlichkeit vorstellen
In einem Brief an die Autoren der Studie schreibt das Präsidiumsmitglied der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (Acatech), Ortwin Renn, eine Kurzfassung des Konzepts sei "am 24. Juni 2009 an Frau Schavan übergeben worden". Neben Acatech waren drei weitere Wissenschaftsorganisationen beteiligt. "Allerdings haben sich die Präsidien der Akademien und das Bundesforschungsministerium darauf verständigt, das Konzept erst nach der Bundestagswahl der Öffentlichkeit vorzustellen, da sonst die Gefahr bestände, dass es im Wahlkampf untergeht oder zerredet wird", heißt es in dem Brief, der der FTD ebenso wie Teile des Gutachtens vorliegt. Das Ministerium wollte sich zum Inhalt der Studie nicht äußern.
Für die CDU kommen die Details der Studie im Auftrag Schavans zum denkbar ungünstigen Zeitpunkt ans Licht. Angela Merkel hatte im TV-Duell gegen Frank-Walter Steinmeier Atomkraft als "Brückentechnologie" bezeichnet. Dies ist seit Ende 2008 offizielle Parteilinie. Damals nahm die CDU - entgegen dem Willen der Spitze - auf Druck von Basis und öffentlicher Meinung Abstand vom Neubau von Kernkraftwerken.
Studie veröffentlicht
Nachdem aus der Studie zitiert wurde, stellte die Deutsche Akademie der Wissenschaften (Acatech) diese ins Internet.
Neue Endlager in Baden-Württemberg
In der Studie plädieren die Forscher ziemlich unverhohlen für neue Meiler: "Abhängig von politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen könnte sich Deutschland aber in der Zukunft wieder an der Entwicklung und dem Bau von neuen Kernkraftwerken beteiligen, um einen erheblichen Teil des Energiebedarfs mit Kernenergie zu decken." Trotz unbestreitbarer Risiken biete die Kernkraft "eine kostengünstige und konsensfähige Grundlast-Stromversorgung ohne CO2-Ausstoß". Die Autoren preisen zudem die Vorzüge von Kernkraftwerken der vierten Generation, die unter anderem in den USA, Frankreich und Großbritannien entwickelt werden. Von diesen werde "eine weitere Verbesserung der Sicherheit mit einer bis zu 50-fach besseren Ausnützung der Kernbrennstoffe erwartet (...), sodass die Verfügbarkeit von Kernbrennstoffen gegenüber den bisherigen Schätzungen entsprechend verlängert wird."
Auch bei der Endlagerfrage sind die Wissenschaftler flexibler als Deutschlands Forschungsministerin. Schavan hat sich wiederholt für den Salzstock Gorleben als Endlager ausgesprochen. Dagegen betonen die Autoren des Gutachtens: "Für ein Endlager in Tongestein liegen umfangreiche wissenschaftliche Erkenntnisse aus Frankreich, Belgien und der Schweiz vor." Schavans Zurückhaltung erklärt sich leicht: Die meisten Tonformationen liegen in Baden-Württemberg - der politischen Heimat der Ministerin.