Ausbilder K. sitzt im Büro seines Dortmunder Rechtsanwalts und barmt um die Zukunft. Mehr als fünf Jahre wollte er noch bei der Bundeswehr bleiben. Danach womöglich vom Zeit- zum Berufssoldaten aufsteigen. Auf alle Fälle aber so lange wie möglich Ausbilder bleiben: "Der Job macht mir wirklich Spaß."
Doch seit zwei Wochen
darf der 26-Jährige weder zum Dienst antreten noch die graue Heeresuniform tragen. Schon gar nicht den gefleckten Kampfanzug. Ausbilder K., der seinen Namen und Dienstgrad nicht nennt, ist suspendiert. Genau wie die meisten seiner 20 Kameraden der 7. Ausbildungskompanie des Instandsetzungsbataillons 7 aus Unna, die in der Coesfelder Freiherr-vom-Stein-Kaserne die Grundausbildung durchführten.
Gegen sie alle - Hauptmann, Fähnrich, Feldwebel, Unteroffizier - ermittelt die Staatsanwaltschaft Münster wegen "Misshandlung" von etwa 80 Rekruten. Die Ausbilder sollen bei einer fingierten Geiselbefragung die Soldaten mit Wasser bespritzt und in einigen Fällen mit Stromstößen gequält haben. Sie sollen den Männern die Hosen heruntergezogen haben, "damit sie nicht davonlaufen können". In einer Gruppe wurde Rekruten angeblich bei zugehaltener Nase Wasser in den Rachen geschüttet. "Vorfälle wie in Coesfeld werden unnachgiebig verfolgt", hat Verteidigungsminister Peter Struck angedroht.
Ausbilder K. weiß nicht mehr, was richtig oder falsch ist. Seine Welt, die er durch Befehl und Gehorsam geregelt glaubte, ist in Unordnung geraten. "Das mit den Stromstößen und dem Wasser war falsch, das war Mist. Aber das ist nicht in meiner Gruppe passiert. Ich hab nur davon gehört. Wenn bei mir einer auf so eine Idee gekommen wäre, hätte ich dazwischengefunkt."
Der Nachtmarsch

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und die anschließende Geiselnahme aber waren für ihn "ganz normales Ausbildungsprogramm". Davon ist er immer noch überzeugt. Die Führer der drei Ausbildungszüge hätten im Sommer alles genau mit den Ausbildern durchgesprochen. Die meisten der Rekruten waren Zeitsoldaten, Offiziersanwärter oder länger als neun Monate dienende Wehrpflichtige. Einem Großteil stehe ein Auslandseinsatz bevor. Dafür würden sie später vorbereitet. Einen Vorgeschmack aber wollte man ihnen schon mal geben.
"Den Gefangenen sollten olivgrüne Wäschesäcke über den Kopf gestülpt oder die Augen mit dem Dreieckstuch verbunden werden, das jeder Soldat zur ersten Hilfe bei sich trägt." Es sei darauf zu achten, dass bei den Tüchern der Knoten am Hinterkopf nicht zu stramm gezogen werde. Die Rekruten sollten ihre Handschuhe tragen. Wenn sie mit Kabelbindern gefesselt würden, dürften die Fesseln nur über dem Leder angelegt werden und nicht ins Fleisch schneiden. Immer sollte nachgefragt werden, ob die Binder auch nicht schmerzten.
Seit einer der ehemaligen Rekruten im Heerestruppenkommando in Koblenz bei einer Tasse Kaffee mit einem höheren Dienstgrad zusammensaß und über seine Zeit in Coesfeld plauderte, herrscht Aufruhr bei Politikern und Militärs. Denn der höhere Dienstgrad war Militärjurist, Mitarbeiter der Rechtsabteilung in der Führungskaserne. Er brachte den Coesfelder Bundeswehrskandal ins Rollen.
Mittlerweile ist die Begriffsverwirrung groß.
War es Folter, waren es Misshandlungen? Haben die Ausbilder nur Ausbildungsrichtlinien missachtet oder haben sie gar gegen Menschenrechte verstoßen? Wenn ja, waren alle daran beteiligt? Und warum hat sich keiner der Soldaten mit einer Beschwerde an den Wehrbeauftragten gewandt? In "großer Sorge", dass in der Armee etwas schief laufe, wies Struck am Wochenende die Truppe an, "noch einmal die Ausbildung in ihrem Bereich zu durchleuchten". Inzwischen mehren sich nämlich die Vorwürfe:
- In Ahlen in Westfalen sei vor zwei Jahren ebenfalls eine Geiselnahme simuliert worden. Die Rekruten hätten mit verbundenen Augen bei eisigem Wetter in einer verschlammten Wiese gelegen und seien verhört worden.
- Ein Soldat, der vor fünf Jahren seine Grundausbildung in Coesfeld machte, behauptet, ein Unteroffizier habe Sand in die ABC-Schutzmaske geschüttet und sie dem Rekruten aufgesetzt. Der sei fast erstickt.
- In Kempten im Allgäu sollen Rekruten nach einem Nachtmarsch mit verbundenen Augen in einen feuchten, kalten Keller gesperrt worden sein.
Der Vorsitzende
des Deutschen Bundeswehrverbandes, Oberst Bernhard Gertz, rät zu einer sachlicheren Tonlage. Die neuen Fälle hörten sich weitgehend so an, wie es bei der Bundeswehrausbildung nun mal zugehe: "Da liegt man schon einmal im Schlamm und muss sich in Pfützen werfen." Auch sei in Coesfeld nicht gefoltert worden. "Ich will die Sache nicht verniedlichen", sagte Gertz dem stern. "Aber die Ausbilder haben sich die Sache schon vernünftig überlegt. So, wie es einige dann umgesetzt haben, ist das Ganze fürchterlich in die Hose gegangen. Da hat ein harter Kern von wohl fünf Mann echt Scheiße gebaut." Diese Leute hätten "Dinge gemacht", die nicht zum Ausbildungsprogramm gehören.
Was und wie ausgebildet werden darf, ist in der so genannten AnTrA 1 geregelt, der "Anweisung Truppenausbildung". Geiselnahmen hätten in der allgemeinen militärischen Grundausbildung nichts zu suchen, so Gertz. "Diese Grenze haben die Ausbilder in Coesfeld offenbar nicht erkannt. Dafür halten wir uns allerdings Kompaniechefs. Die müssen urteilen: Idee gut, die Ausführung nicht." Rollenspiele seien grundsätzlich zu begrüßen, sagte Gertz. "Da lernen Soldaten, wie man sich verhält, wenn man an physische und psychische Belastbarkeitsgrenzen geführt wird. Das ist zulässiger Bestandteil einer Ausbildung." Dass sich die Ausbilder immer öfter an Lagesituationen der Auslandseinsätze orientieren, hält Gertz für nicht verwunderlich: "Die sehen die Bilder aus dem Irak. Und jeden Tag wird den Jungs etwas vom Transformationsprozess der Bundeswehr zur Einsatzarmee erzählt."
Die Coesfelder Skandalübung hatte mit einem Nachtmarsch begonnen. "Es war Spätsommer. Deshalb starteten die meisten Gruppen erst abends gegen zehn Uhr in der Dämmerung", so Ausbilder K. Der 20 Kilometer lange Marsch ging über Feldwege, Wiesen, Äcker, dann zurück über den bewaldeten Truppenübungsplatz. Unterwegs waren so genannte Gefechtsposten eingerichtet, markiert mit einer Holzkiste. In den Kisten lagen Anweisungen zur Orientierung mit Karte und Kompass, zur Versorgung von Verletzten. "Normale Übungen eben", sagt Ausbilder K. "Das Ganze hatte bis dahin eher den Charakter einer Schnitzeljagd."
Die Falle schnappte zu, als die Soldaten schon drei oder vier Stunden unterwegs und müde waren. Spätestens am fünften "Gefechtsposten" wurden sie nachlässig. Einer aus der Gruppe hätte die Kiste vorsichtig öffnen müssen. Die elf Kameraden, so schildert es K., sollten währenddessen mit ihren G36-Gewehren "wie Igel" um ihn herumstehen. "Doch die Jungs zogen die Stahlhelme ab, setzten sich zum Ausruhen auf den Boden, steckten sich Zigaretten an und quatschten." Das war für die Ausbilder der Zeitpunkt für den Überfall.
Mit Geschrei und ÜbungsGeballer aus Maschinenpistole und Gewehr stürzten sie sich auf die Rekruten. Sie brüllten Befehle auf Englisch: "Get down! Don't shoot!" Die Rekruten waren völlig konfus. "Einige feuerten zurück. Andere waren so geschockt, dass sie da schon aufgaben und das Codewort "Tiffy" nannten. Danach war für sie die Übung zu Ende." Die anderen Rekruten wurden gefesselt und mit verbundenen Augen weggefahren.
In der Kaserne
war die Übung noch nicht zu Ende. Es folgte der derzeit umstrittenste Teil: In einem grau gestrichenen Flur wurden die Gefesselten "verhört". Wieder wurden sie auf Englisch angebrüllt, sollten ihre Namen, ihren Auftrag, ihre Einheit preisgeben.
Wenn die Rekruten stockten, nicht wussten, was sie sagen durften, wurde der Druck erhöht. "Ja, wir haben dabei einige auch mit der Kübelspritze nass gespritzt", sagt Ausbilder K. "Ob das in Ordnung ist, darüber hab ich mir keine Minute lang einen Kopf gemacht." Schließlich seien die Wasserspritzen, die in den Unterkünften auf jedem Flur hängen, ständiger Anlass für Ulk auf den Stuben.
Die meisten Rekruten machten das Verhörspiel aus Sicht des Ausbilders "interessiert" mit. "Viele sahen das als durchaus authentisch, wie sie später sagten." Einige lachten, fanden die Situation offenbar albern. Nach einer halben Stunde waren die Verhöre vorbei. Die Soldaten durften in ihre Unterkünfte. "Gewehrreinigen. Dann vier Stunden ins Bett."
Anschließend mussten alle zur Nachbesprechung der Übung mit dem Zugführer. Der wollte wissen, wie es war, ob sich jemand überfordert fühlte. Fragte, ob jemand sich beschweren wollte, bei der Vertrauensperson, beim Kompaniechef. "Viele fanden die Übung toll", erinnert sich K. "Einige meinten, sie sei ,fordernd und anstrengend" gewesen. Die wollten das aber positiv verstanden wissen." Wirklich beschwert habe sich keiner der Rekruten.
Obergefreiter Ralph
hat sein Maßband mit den Resttagen in der Tasche. 31 Tage hat der W-9er noch zu dienen. Seine Grundausbildung hat er in Coesfeld gemacht. "Es waren die gleichen Ausbilder, die jetzt als Schleifer in den Zeitungen stehen", sagt er. "Ich war im Frühsommer da, ein Quartal vor den jetzigen Vorfällen. Auch bei uns hat es eine ähnliche Übung mit Gefangennahme gegeben."
Beim großen Nacht-Orientierungsmarsch gerieten sie in den Hinterhalt. Sie wurden gefesselt, die Augen verbunden, auf der Pritsche eines Zehntonners in den so genannten Wehrübungswald gefahren. In einem Sandloch mussten sie sich niederknien. "Dann trat ein Ausbilder an mich heran und fragte leise, sodass es die anderen nicht hören konnten: Wärst du einverstanden, wenn wir dich jetzt nass spritzen?" Die Übung sollte simulieren, dass Angreifer den Soldaten mit Öl übergießen und drohen, ihn anzuzünden. Sie wollten wissen, wie die Kameraden auf die neue Lage reagierten. "Ich habe gesagt: Okay, wenn ich mir anschließend trockene Klamotten anziehen kann."
Ralph ließ sich bespritzen. Anschließend durfte er sich umziehen. "Die Ausbilder waren korrekt", sagt Obergefreiter Ralph. "Als in dem Sandloch jemand abgerutscht ist, waren sofort vier von ihnen bei ihm und wollten wissen, ob er sich verletzt habe." Wenn Ralph heute im Internet über die Coesfelder Ausbildungskompanie "Willkommen in der Hölle" liest, winkt er ab: "Dummes Chat-Gelaber."
Rekrut Lars
war "zu Hause krankgeschrieben", als sein Ausbildungszug im August in Coesfeld den Nachtmarsch machte. Als er tags darauf in die Kaserne kam, lagen seine Kameraden "völlig fertig" in der Unterkunft. "Die erzählten, wie sie im Keller verhört und angebrüllt worden waren." Einer sei mit Strom traktiert worden. Die Ausbilder hätten ihm die Kabel eines Prüfgerätes für Feldfernsprecher in den Nacken gehalten. "Das war wohl nicht so stark wie der Strom von einem Weidezaun. Aber es sei unangenehm gewesen, hat der Kamerad gesagt." Insgesamt vier Rekruten sollen traktiert worden sein.
Anfang dieser Woche rief Verteidigungsminister Peter Struck seine Inspekteure zusammen. Ihn treibt die Frage um, ob die Auslandseinsätze das Bewusstsein der Soldaten verändert haben.
Bereits verändert hat sich die Ausrichtung der Bundeswehr: Derzeit werden die neuen Ausbildungsrichtlinien auf der Bonner Hardthöhe auf CDs gebrannt. Sie kommen den Anforderungen einer Einsatzarmee näher. Im August hatte Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhahn die Truppe vorab informiert: "Die Ausbildung umfasst künftig folgende fünf Kernbereiche: Waffen und Schießausbildung mit den jeweiligen Handwaffen. Einsatzbezogene Gefechtsausbildung. Sanitätsausbildung mit Schwerpunkt der Selbst- und Kameradenhilfe. Körperliche Leistungsfähigkeit zum Bestehen unter psychischen und physischen Dauerbelastungen ..."