Manchmal haut Angela Merkel einen raus. Die Kanzlerin tut das in der Regel mit Bedacht, bisweilen sogar mit pädagogischem Impetus. Die Öffentlichkeit erhält dann einen der sonst eher seltenen Einblicke in ihren Gemütszustand.
Am Montagmorgen war es mal wieder soweit – und man kann aus der Halbdistanz getrost diagnostizieren: Merkel ist genervt.
Jeder ruft: Und was ist mit mir? Für Merkel ein inakzeptables Durcheinander
Während der Telefonschalte des CDU-Präsidiums hat Merkel einen Begriff fallen lassen, der das Zeug hat, zumindest auf die Shortlist für das "Wort des Jahres" zu kommen. Er lautet: "Öffnungsdiskussionsorgien". In dem Wort-Ungetüm ist viel Merkel drin, am meisten aber wahrscheinlich ihr Frust darüber, dass in einer schwierigen Situation nicht der Gemeinsinn die Debatte dominiert, sondern das Durchsetzen von Partikularinteressen. Jeder ruft: Und was ist mit mir? Für Merkel ist das ein inakzeptables Durcheinander, gewissermaßen orgiastisch.
Merkel ist in der Tat in einer Zwickmühle. Sie hätte am liebsten, dass nun ein weiteres Mal für ein paar Tage Ruhe im Karton herrschte. Sie hätte am liebsten: Ein Volk im Freilandversuch. Und eine Regierung, die gesellschaftliches Leben quasi wie im Testlabor beobachten dürfte, um dann valide beurteilen zu können, ob die beschlossenen Maßnahmen angemessen wirken.
Doch so läuft es nicht. Stattdessen kriecht Unruhe hoch, Unzufriedenheit. Das Gerangel der Bundesländer um wahlweise liberale oder strikte Öffnungsklauseln tut sein übrigens. Mit jeder regionalen Ausnahmeregel verliert der Kampf gegen das Virus aber seine Stringenz.
Merkels Sorge: Die Deutschen nehmen die Bedrohung durch das Virus nicht mehr ernst
Merkel weiß: Jedes kritische Argument gegenüber einzelnen Maßnahmen unterhöhlt auch das Gesamtpaket. Und: Ein bisschen Lockerung hier, ein wenig Lockerung dort verändert zwangsläufig die grundsätzliche Haltung in der Bevölkerung gegenüber der Bedrohung durch das Virus.

Viele nehmen es nicht mehr so ernst, wie sie es müssten. Nach Merkels Ansicht erhöht sich dadurch das Risiko eines Rückfalls sehr stark. Sie mache sich größte Sorgen, dass sich die gute Entwicklung bei den Corona-Infektionen wieder umkehre, weil sich zu wenige Menschen an die Kontaktbeschränkungen halten würden, sagte die Kanzlerin in der Präsidiumssitzung nach Angaben von Teilnehmern.
Die Lage ist ernst – auch, weil viele die Lage nicht mehr ernst nehmen
Nun rächt sich in gewisser Weise, dass zu Beginn des Lockdowns der 20. April als erstes hoffnungsvolles Zieldatum in Aussicht gestellt wurde. Doch die Hoffnung auf weitgehende Lockerungen wurde erstmal aufgeschoben. Erst für den 30. April sind die nächsten Verhandlungen von Bund und Ländern über das weitere Vorgehen geplant. Das sind weitere zehn quälende Tage. Und auch danach wird noch vieles ungewiss sein.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!
Im Präsidium machte Merkel deutlich, dass man sogar erst am 8. oder 9. Mai einen Überblick darüber haben werde, wie man in der Wirtschaft vorankomme und wie es in den Schulen aussehe. Das sind noch fast drei Wochen. Dass die Bevölkerung sich in dieser Zeit weiterhin recht strikt an die Abstandsmaßnahmen hält, glaubt Merkel eher nicht.
Sie sei skeptisch, sagte die Kanzlerin am Montagmorgen. Übersetzt heißt das: Die Lage ist weiterhin ernst, auch deshalb, weil offenkundig die Bereitschaft nachlässt, sie angemessen ernst zu nehmen.