Aiwanger und die Flugblatt-Affäre Ein Bad für den Bierkönig

Hubert Aiwanger hatte bei seinem Wahlkampfauftritt im Bierzelt in Aschau ein echtes Heimspiel – trotz Flugblatt-Affäre
Hubert Aiwanger hatte bei seinem Wahlkampfauftritt im Bierzelt in Aschau ein echtes Heimspiel – trotz Flugblatt-Affäre
© Uwe Lein / DPA
Kommt er? Oder kommt er nicht? Er kam. Der in der Kritik stehende Hubert Aiwanger eröffnete am Abend im Chiemgau den Aschauer Markt. Seine Rede im Bierzelt geriet zum Heimspiel.

Die Gemeinde Aschau im Chiemgau ist ein liebliches Fleckchen Erde, knapp 6000 Einwohner, am Fuße der Kampenwand gelegen, der Chiemsee nah. Sie haben eine renommierte Kinderklinik für Orthopädie, die jungen Patienten kommen aus der ganzen Welt. Am Ortseingang, im früheren Gasthaus Weißbräu, gegenüber vom katholischen Pfarrheim leben seit 2016 um die 80 Flüchtlinge und Asylbewerber, auch aus der ganzen Welt. Und man darf sagen, dass deren sprachliche Assimilation in der neuen Heimat offenbar gelungen ist, denn die jungen Frauen, Männer und Kinder grüßen gern im lokalen Idiom mit Servus und Grüß Gott.

Im monatlichen Gemeinde-Blatt wünscht der 1. Bürgermeister Simon Frank von der "Zukunft für Aschau" seinen Bürgerinnen und Bürgern einen schönen Sommer, lobt das gesunde Vereinsleben. Man trifft sich im Heimatverein oder Trachtenverein oder im Sportverein oder zum "Bankerlsingen", Aschau nennt sich nämlich das "Bankerldorf", mehr als 200 davon entlang der Prien, auf Feldern und in den Wäldern.

Der Festredner: ausgerechnet Aiwanger

Es ist, Touristen fühlen das subito, ein Ort der Entschleunigung. Mittags schließen die meisten Geschäfte, zwei Stunden Siesta. Beschaulich und gediegen geht das Leben zu am Alpenrand – mit Ausnahme von vier dollen Tagen Ende August und Anfang September, wenn Aschauer Markt ist und ein riesiges Festzelt auf die Wiese in der Schützenstraße gewuchtet wird, Platz für mehrere Hundert, und es abends den Bieranstich gibt und traditionell ein Festredner erscheint und Stimmung macht. In diesem Jahr und ausgerechnet ist das Hubert Aiwanger, Chef der Freien Wähler im Freistaat, bayerischer Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident, seit Tagen im Zentrum der ekligen "Flugblatt-Affäre", jener widerlichen Pamphlete, die während seiner Zeit am Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffendorf in seinem Schulranzen gefunden wurden.

Vieles ist Aiwanger aus dieser Zeit "nicht mehr erinnerlich", wie er mit leicht eigentümlicher Sprache beteuert. Etwa die Zahl der Kampfblätter ("Erster Preis: Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz") und wie sie in seine Tasche gelangten. Wohl aber, dass er nicht der Verfasser gewesen sei. Brav meldete sich am Abend der Veröffentlichung in der "Süddeutschen Zeitung" sein Bruder Helmut und reklamierte das Urheberrecht. Seither kommt scheibchenweise immer mehr ans Licht. Ehemalige Mitschüler melden sich, mal anonym, mal mit Klarnamen. Einige von ihnen erlebten den jungen Hubert als einen mit stramm rechter Gesinnung, der schon mal den Arm zum Hitlergruß hob, Adolf imitierte, grässliche Judenwitze erzählte und sich lustig machte über die Hungerbäuche afrikanischer Kinder. Andere, allen voran natürlich Hubert selbst, können sich an solche Ausfälle nicht erinnern.

Zu Wochenbeginn wurde Aiwanger zum Rapport nach München bestellt, und ein sichtlich verärgerter Landesvater Söder übergab ihm einen Fragenkatalog mit der dringenden Aufforderung zur Beantwortung. Das war so etwas wie eine dunkelgelbe Karte im Fußball. Der Erfolg dieser schriftlichen Prüfung bleibt schon insofern ungewiss, weil Tag für Tag neue Fragen aufploppen, und derjenige, der sie beantworten könnte, Hubert Aiwanger, ganz entgegen sonstiger Gewohnheit keinen Klartext redet, sondern vor allem kryptisch-erratisches Zeugs. Etwa derart: "Es ist auf alle Fälle so, dass vielleicht in der Jugendzeit das eine oder andere so oder so interpretiert werden kann, was als 15-Jähriger hier mir vorgeworfen wird… Aber auf alle Fälle, ich sag' seit dem Erwachsenenalter, die letzten Jahrzehnte: kein Antisemit, kein Extremist, sondern ein Menschenfreund." Er könne für die letzten Jahrzehnte "alle Hände ins Feuer legen" ("Welt-TV"). Zwischendurch war ein eingestreutes "Schmutzkampagne" über seine Sprecher oder via X, vormals Twitter,  zu vernehmen, sekundiert von Parteifreunden, die das Ganze unter dem Rubrum "Jugendsünde" einsortieren.

Aschau schwitzt Hubsi entgegen

Das war im Groben die Gemengelage vor Aiwangers Bierzelt-Auftritt. Festzelte galten bis vor kurzem als natürliches Terrain für den Grobrhetoriker aus Niederbayern. Seit dem Wochenende weiß man das nicht mehr so genau. Der Druck wächst stündlich – es wird kommende Woche auch eine Sondersitzung des Landtags geben. Und Aiwanger? Druckst den Druck weg. Donnerstag tagsüber hatte er bereits mehrere Termine abgesagt, am Nachmittag verlas er ein dürres Statement vor den Medien, "ich habe als Jugendlicher auch Fehler gemacht. Ich bereue zutiefst, wenn ich durch mein Verhalten auf das in Rede stehende Pamphlet oder weitere Vorwürfe gegen mich aus der Jugendzeit Gefühle verletzt habe", aber dann und abermals: "Ich habe den Eindruck, ich soll politisch und persönlich fertig gemacht werden."

Nun warten sie im Festzelt auf einen, auf den einige so richtig gar nicht warten wollten. In den Tagen zuvor vernehmbares Murren hier und da über Aiwanger – und zwar völlig abseits der Pamphlete, eher grundsätzlich. Aber so ein richtiges Fest braucht nun mal einen Festredner. 16.30 Uhr. Erste zarte Tuba-Töne aus dem Zelt, Probe der "Priener Buam", von der Wiese schräg gegenüber weht der Klang von Kuhglocken. 18 Uhr, die Aschauer machen sich auf dem Weg ins Zelt, die Dirndl- und Lederhosendichte liegt auf ortsangemessen hohem Niveau, 615 Meter über dem Meeresspiegel. Über allem die Frage: Kommt er? Und wenn ja: Was sagt er? Und wenn nein: Was sagt uns das?

Kurz vor 18.30 Uhr Einlass, Bürgermeister Frank bringt mit drei Hieben das Fass in Gang. Es kann losgehen. Sepp Lausch von den Freien Wählern entert die Bühne und beantwortet die Mutter aller Fragen: "Der Aiwanger kimmt". Und er kommt. Kameras, Blitzlicht, Händeschütteln. Hubsi ganz in seinem Element.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Lausch stellt ihn vor, den Hubert. Mit einem, wie er sagt, altem Indianersprichwort: "Wer die Wahrheit spricht, braucht’s a schnelles Pferd." Er lobhudelt vom "normalsten und intelligentesten Politiker unserer Politikerkaste“.

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Auftritt Aiwanger, das weiße Hemd selbstverständlich hochgekrempelt. Applaus. Und er legt gleich los, "hier in diesem Zelt sitzen die wahren Grünen, die Bauern und wahren Naturschützer".

Er dekliniert das Wahlprogramm rauf und runter

Es geht um Mittelstand und Eigentum, Bürgerentlastung, Handwerk, regionale und lokale Strukturen. Und immer wieder um den “gescheiten Menschenverstand“, den er hier im Zelt verlotet, nicht aber in Berlin. Er springt aus dem Stand mal flott nach China, fordert eine industrielle Gegenstrategie, geißelt den "industriellen Rückwärtsgang der Ampel".

Aiwanger dekliniert das Wahlprogramm der Freien Wähler rauf und runter, setzt zielsicher Pointen. Wahlkampf kann er. Kein Wort indes über das Pamphlet. Dieser Aiwanger hat nichts mit jenem Aiwanger zu tun, der wenige Stunden zuvor schmallippig und blass das Statement vom Blatt ablas, etwas mehr als zwei Minuten lang. Setzte sich dann ins Auto, ließ sich nach Aschau fahren, und dem Wagen entstieg der Hubert vom Lande. Der sagt, was die Leute hören wollen. Hubsi, der Bierkönig.

Weiter im Text, einer Eloge auf den Verbrennungsmotor folgt eine Eloge auf Brennholz, hernach ein Loblied auf Familie, Heimat und Tradition.

Das Zelt beginnt zu schwitzen, die Maß kostet 10,80 Euro, das halbe Brathendl auch. Ein Prosit der Gemütlichkeit. Es klongt und klingt von den Bänken.

Noch ein paar Seitenhiebe auf Lauterbach und die Cannabis-Freigabe. Ein bisschen böser Wolf und böse Wärmepumpe. Und, klar, das darf in einer zünftigen Rede auf dem Land nicht fehlen, mit ihm, Hubsi, wird es keine Waffenrechtsverschärfung geben. Stattdessen aber eine Perspektive für junge Familien auf ein eigenes Haus. Weg mit der Erbschaftssteuer auch deshalb, "ein Haus muss wieder eine Sparkasse für die Bürger sein“.

So geht das noch ein Weilchen, vor und zurück, meistens vor. Nach 38 Minuten ruft er "Zukunftshoffnung statt Zukunftsangst". Und das war es dann.

Applaus brandet durchs Zelt, vielleicht keine Ovationen, aber doch viel Zuspruch. Aiwanger darf sich noch ins Goldene Buch der Gemeinde eintragen. Freund und Parteikollege Sepp Lausch, der mit dem Indianersprichwort, gesellt sich wieder auf die Bühne und gibt noch ein Sprichwort zum Besten, "der größte Lump in diesem Land, das ist und bleibt der Denunziant". Zaghafter Applaus. Lausch überreicht dem Hubsi noch einen Rückenprotektor, wie ihn Motorradfahrer benutzen, "weil der Hubert der einzige mit Rückgrat ist". 

Tusch und Ende. Aiwanger badet sich durch die Menge zum Ausgang. Schulterklopfen, Selfies,  Smalltalk, Hände schütteln. Ein Heimspiel war's.

Am Freitag ist wieder Alltag. Und der ist für Hubert Aiwanger ungemütlicher als ein Abend im Bierzelt.

tis